Dezentrale Netzwerke: Social Media ohne große Unternehmen
Social Media sind ein guter Weg, um neue Menschen kennenzulernen, alte Bekannte nicht aus den Augen zu verlieren – oder daran erinnert zu werden, wenn die besten Freunde Geburtstag haben. Aber die großen Netzwerke liegen alle in der Hand milliardenschwerer Unternehmen, die unsere Daten dazu nutzen, Werbung zu verkaufen. Bisherige Versuche durch Gesetzgeber in den USA oder der EU, diese Eingriffe zu regulieren, gehen Kritiker*innen nicht weit genug. Dabei sind wir auf große Konzerne, die alle Daten zentral auf ihren eigenen Servern lagern, gar nicht mehr angewiesen. Längst gibt es dezentrale Alternativen, die ganz in der Hand derer liegen, die am stärksten von den Netzwerken profitieren sollten: der Nutzer*innen. Wir blicken daher darauf, was man für deren Nutzung wissen sollte.
Viele Nutzer*innen stellen sich regelmäßig die Frage, ob Social-Media-Apps ihnen gut tun – und wenn nein, wieso sie ihre Accounts dort nicht einfach aufgeben. Soziale Netzwerke können schlechte Gefühle verstärken, indem sie einen wie beim Doomscrolling ans Handy kleben oder auch Nachrichtenmüdigkeit bewirken. Außerdem wird dort Werbung angezeigt. Fast die Hälfte der Menschen unter 34 fühlen sich nach eigener Aussage durch digitale Medien gestresst. Aber wieso löscht man die Apps dann nicht einfach? Eine Antwort auf diese Frage heißt Instant Gratification. Also die schnelle Belohnung durch Likes, bunte Farben und lustige Videos.
Eine andere Antwort heißt Netzwerkeffekt. Das ist der Grund, wieso manche vielleicht noch einen Facebook-Account haben, wieso viele sich damals den Messenger Signal heruntergeladen haben oder wieso zahlreiche Zuschauer*innen einmal im Jahr Wetten dass..? geschaut haben, obwohl sie sich während der ersten Minuten über diese Entscheidung ärgern. Dieser Netzwerkeffekt kann beschrieben werden als FOMO (fear of missing out, die Angst, etwas zu verpassen) der Gruppendynamik.
KURZ ERKLÄRT:
Als Netzwerkeffekt bezeichnet man den Effekt, dass Produkte attraktiver und nützlicher wirken und werden, weil viele sie nutzen. Gut designte und praktische Social Apps scheitern oft nur, weil sie kaum Nutzer*innen vorweisen können.
Nichts ist umsonst – nicht einmal die Netzwerke, die nichts kosten
Eine bekannte Weisheit lautet: Wenn es nichts kostet, bist du das Produkt. Denn klar: Die Unternehmen, die Anbieter der sozialen Netzwerke, in denen wir uns vernetzen, Freundschaften knüpfen oder womöglich auch die Liebe unseres Lebens finden, haben nicht das primäre Interesse, dass wir dort eine gute Zeit verbringen. Sie haben ein Interesse daran, dass wir dort viel Zeit verbringen. Denn umso mehr Möglichkeiten gibt es, uns dort Werbung anzuzeigen.
Die Art der Werbeplatzierung hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Hing sie früher noch an Litfasssäulen oder lief zwischen Fernsehsendungen und lieferte kaum Aussagen darüber, wer die Werbung gesehen und was die Person damit gemacht hat, haben digitale Medien quasi alles verändert. Durch direktes Feedback und größere Datenlage kam die Disziplin Microtargeting hinzu: Nun ist es möglich, sehr detaillierte Attribute auszuwählen, um ein bestimmtes Publikum anzusprechen. Geschiedene Männer zwischen 30 und 50, die ein großes Interesse für Rockmusik und Wanderschuhe haben und aus dem Kreis Gütersloh kommen? – Kein Problem, hier sind 5.535 Menschen, die diesem Profil entsprechen.
Um solche Angaben über Nutzer*innen zu erfassen, versuchen die Netzwerke, möglichst viel aus dem Nutzungsverhalten herauszulesen. Denn: Nahezu keine dieser Informationen wurde händisch im Registrierungsprozess angegeben. Das bedeutet im Umkehrschluss: Kein Like, kein Kommentar, nicht einmal das Lesen von Posts bleibt unbemerkt, es fließt in ein individuelles Werbeprofil ein.
Wie sich die Communitys die Netzwerke zurückholen
Es gibt eine Gegenbewegung zu diesen zentralisierten Plattformen und auf Kapital ausgerichteten Konzernen. Ihre Angebote ähneln im Funktionsumfang häufig den vertrauten sozialen Netzwerken wie X (ehemals Twitter), Facebook oder Instagram – nur steckt kein großes Unternehmen dahinter, sondern Nutzer*innen, die eigene Server einbringen. Dieses förderale Prinzip einiger vieler Server (oder wie es häufig heißt: Instanzen) und Anbieter, die gemeinsam ein Netzwerk stellen, nennt man Fediverse. Die Angebote im Fediverse haben keine kommerziellen Absichten, sind also werbefrei, basieren in der Regel auf Software, deren Quellcode für alle offen einsehbar zur Verfügung steht, und sind interoperabel – sprich: Wer sich auf dem einen Dienst anmeldet, kann sein Login auch für einen anderen Dienst nutzen.Einer der bekanntesten Dienste im Fediverse ist der Microblogging-Service Mastodon, dessen Funktionsumfang am ehesten X ähnelt.
Nicht erst seit der Übernahme durch Elon Musk hat X mit enormer Kritik zu kämpfen: Das Netzwerk sei willkürlich geführt, unterbinde auf der einen Seite freie Berichterstattung durch die Sperrung der Accounts von Journalist*innen, fördere auf der anderen Seite aber undemokratische Positionen und Desinformationen.
Mastodon hat nach eigenen Angaben derzeit etwa 2,1 Millionen monatlich aktive Nutzer*innen – und allein an dem Wochenende, als Elon Musk ein Leselimit bei Twitter einführte, gab es laut Mastodon-Gründer Eugen Rochko 110.000 Neuanmeldungen. Zum Vergleich: Instagram hat etwa 27,4 Millionen monatlich aktive Nutzer*innen, Facebook 24,5 Millionen und TikTok 20,6 Millionen – nur in Deutschland.
Dezentrale Alternativen im Fediverse
- Statt Twitter: Mastodon
Die derzeit präsenteste dezentrale Option Mastodon ist ein Microblogging-Angebot, das stark an X erinnert und in dem sich kurze Nachrichten in Echtzeit veröffentlichen lassen. Es basiert auf dem Protokoll ActivityPub und bietet auch andere Zugänge ins dezentrale Microblogging wie CalcKey oder Pleroma. - Statt Instagram: Pixelfed
Das Nutzungserlebnis bei Instagram ist geprägt von Algorithmen und präsenter Werbung. Pixelfed setzt ein Gegengewicht: Es ist algorithmen- und werbefrei. Bislang wurden dort über 13 Millionen Bilder hochgeladen. - Statt Facebook: Friendica
Friendica legt Wert auf Vernetzung, Events und Postings – also vieles, was Nutzer*innen bei Facebook schätzen oder geschätzt haben.
Es ist nicht alles Gold, was dezentral ist
Obwohl Mastodon, das Fediverse und dezentrale Ansätze ein Entwurf für Internetcommunitys ohne die Datensammelwut und algorithmische oder autokratische Einflussnahme von Unternehmensinhabern sein können, werden sie wie die Zahlen zeigen von der großen Masse noch nicht angenommen. Warum ist das so? Zum einen sind Netzwerke, die ehrenamtlich und aus nicht-kommerzieller Hand aufgesetzt worden, nicht so radikal und kompromisslos auf Nutzer*innenfreundlichkeit optimiert wie die etablierten Angebote der Unternehmen, deren Ziel, mehr Werbung zu verkaufen vor allem über lange Nutzungszeiten erzielt wird. Ihr primäres Interesse ist, durch Design, Inhalt und Einfachheit einen Sog zu kreieren. Während Instagram oder TikTok alles daran setzen, uns eine möglichst frustfreie, reibungslose Nutzungserfahrung zu bieten, birgt die Dezentralität einiger alternativer Angebote auch eine sperrige Tech-Affinität: Wer sich zuerst entscheiden muss, auf welcher Instanz er oder sie stattfinden möchte, ist vielleicht schneller wieder weg, als man Fediverse sagen kann. Es ist eben einfach bequemer, die leicht zu bedienende App zu nutzen – dafür nehmen viele die Preisgabe ihrer Daten in Kauf.
Der Internetforscher Michael Seemann formuliert es so: „Das Problem ist, dass die Vorteile von dezentralen Netzwerken in der Benutzung erst mal nicht offensichtlich sind. Im Gegenteil. Dezentralität bedeutet immer mehr Komplexität, aufwendigeres Onboarding, nerviges Erklären. Es macht keinen Spaß und bringt im Grunde keine anfassbaren Vorteile.” Dennoch gebe es langfristige Vorzüge, so der Forscher: „Der wesentliche Vorteil dezentraler Systeme liegt in der Resilienz. Ein dezentrales Netzwerk kann niemand ausknipsen oder für 44 Milliarden einfach kaufen und kaputtmachen. Das ist ein wichtiger Wert, aber es braucht Zeit, dass sich dieser Wert in den Köpfen festpflanzt.” Heißt also: Vielleicht dauert es einfach noch, bis sich das Fediverse durchsetzt.
Zum anderen sind soziale Netzwerke mehr als nur Websites, auf denen sich zufälligerweise Menschen tummeln, deren Inhalte wir lesen können. Soziale Netzwerk sind Räume, in denen Diskurse geführt, Freundschaften oder Beziehungen geschlossen werden oder Popkultur geprägt wird – und sie sind allen Widrigkeiten zum Trotz Räume, in denen Wissen und Informationen demokratisiert, die Leisen laut werden und Nachrichten in Echtzeit durch die Welt gesendet werden können. Diese Netzwerkeffekte sind es, die uns in unseren digitalen Wohnzimmern halten, obwohl das Sofa im Nebenraum womöglich viel bequemer sein könnte.
Der Weg in eine dezentralen Welt führt also auch darüber, ein entsprechendes Vorbild zu sein. Be the change you want to see – solange reichweitenstarke Person die klassischen Netzwerke nutzen, bieten sie auch Anlass, sich weiterhin dort einzuloggen. Es gibt viele prominente Beispiele für Vorstöße ins Dezentrale: Die Tagesschau veröffentlicht ihre Informationen auf Mastodon – sogar über eine eigene Instanz. Viele Regierungsbehörden sind im Fediverse anzutreffen – und auch Persönlichkeiten wie Jan Böhmermann nutzen ihre Reichweite, um für Mastodon zu werben.
VOR- UND NACHTEILE DEZENTRALER PLATTFORMEN GEGENÜBER “KLASSISCHEN” SOZIALEN NETZWERKEN
(+) Werbefreiheit und Unabhängigkeit gegenüber wirtschaftlichen Interessen
Große Konzerne agieren im Sinne ihres Kapitals und der Aktionär*innen. Dezentrale Netzwerke liegen in der Hand derer, die sie benutzen. Das bedeutet auch Werbefreiheit.
(+) Keine Beeinflussung durch Algorithmen
Nutzer*innen haben die Kontrolle über das, was sie sehen und wieso. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass ein Netzwerk versteht, welche Inhalte man konsumieren will, und entsprechend auswählt.
(+) Zukunftssicherheit
Wenn der Server, die Instanz oder sogar das Netzwerk das Zeitliche segnen sollten, gehören die Daten weiterhin den Nutzer*innen oder denen, die den Server betreiben, und nicht Unternehmen oder Kapitalgeber*innen.
(-) Sperrigkeit
Die Optimierung auf die Kapitalisierung der werbeorientierten Plattformen führt auch zu einem Komfort, der die Nutzungsdauer erhöht. Diese Vorzüge fehlen in den dezentralen Plattformen häufig. Plus: Vor der Nutzung muss man sich grundlegend mit der Funktionsweise auseinandersetzen – und das kostet Zeit.
(-) Gebaut auf Ambitionen
Das größte Problem von größtenteils ehrenamtlichen Serverbetreiber*innen ist, dass sie jederzeit und folgenlos entscheiden können, ihre Tätigkeit aufzugeben. Seine Daten dennoch zu behalten, setzt eigenes Zutun voraus.
(-) Fehlende Netzwerkeffekte
Soziale Netzwerke oder Messenger erfüllen für die meisten Menschen ihren Sinn, wenn Freund*innen, die Familie oder eine relevante Anzahl bestimmter Menschen diese nutzen. Wer mitkriegen will, was Mitschüler*innen von früher heute so machen, wird bei dezentralen Alternativen bislang weniger fündig als bei den „großen”.
Wenn die Tech-Unternehmen Dezentralität für sich entdecken
Diese verstärkte Aufmerksamkeit ist es auch, die Dezentralität wiederum für die großen Techunternehmen spannend macht – so hat Meta mit Threads eine eigene App an den Start gebracht, die auf demselben Protokoll basiert wie Mastodon, sich anfühlt wie X – und innerhalb der ersten 24 Stunden 30 Millionen Anmeldungen generiert hat. Zum Vergleich: X hat seinerzeit für die erste Million zwei Jahre gebraucht. Und Facebook immerhin zehn Monate.
Für Michael Seemann sieht Meta hier die Chance auf eine Win-win-Situation: „Selbst die paar Millionen Fediverse-Nutzer*innen können in der Frühphase für Threads einen relevanten Kern bilden, von dem aus man weitere Netzwerkeffekte generieren kann, um zu wachsen. Aber das scheint mir irrelevanter zu sein, als viele glauben. Relevanter ist glaube ich das Virtue signalling (also ein Hervorheben moralischer Werte, Anm. d. Red.).”
All das gibt den Fediverse-Nutzer*innen Grund zur Sorge: Hier könnte ein kapitalorientiertes Unternehmen durch große Werbeeffekte und unverhältnismäßig starke Registrierungswelle, eine algorithmusbasierte Nutzung oder sogar Werbeintegration nachhaltig Schaden für die Dezentralität anrichten. Die Hoffnung vieler anderer: Hier könnte ein kapitalorientiertes Unternehmen einen einfachen und aufmerksamkeitsträchtigen Ansatz schaffen, einen Weg ins Dezentrale zu finden.
Wie gesagt: Es ist kompliziert. Und das bleibt es auch erst mal: Ausgerechnet die Vernetzung zentraler und dezentraler Angebote ist es, die Instagram daran hindert, Threads nach Deutschland zu bringen: Derzeit verstößt die App noch gegen EU-Datenschutzgesetze.
Es bleibt spannend, wie viele Nutzer*innen sich für die dezentralen Netzwerke entscheiden werden – gerade in der EU, wo andere Netzwerke wie X durch Verwässerung der eigenen Stärken gerade Lücken reißen. So oder so profitieren die Communitys davon, dort selbstverantwortlich mit ihren Daten umzugehen und Vernetzung und Unterhaltung zu erleben.
ÜBER DEN AUTOR
Gavin Karlmeier ist Digitalberater und Formatentwickler. Er hat als Channel Manager die Neuausrichtung von 1LIVE begleitet und den-Podcast „wirreden“ entwickelt. Heute betreut Gavin Karlmeier die Audience-Development-Einheit des WDR-Newsrooms und entwickelt Podcasts für den Deutschlandfunk.
Schon gewusst?
Mastodon hat nach eigenen Angaben derzeit etwa 2,1 Millionen monatlich aktive Nutzer*innen – und allein an dem Wochenende, als Elon Musk das Leselimit zu X (ehemals Twitter) gebracht hat, gab es 110.000 Neuanmeldungen.
Dezentrale Netzwerke: Social Media ohne große Unternehmen
Social Media sind ein guter Weg, um neue Menschen kennenzulernen, alte Bekannte nicht aus den Augen zu verlieren – oder daran erinnert zu werden, wenn die besten Freunde Geburtstag haben. Aber die großen Netzwerke liegen alle in der Hand milliardenschwerer Unternehmen, die unsere Daten dazu nutzen, Werbung zu verkaufen. Bisherige Versuche durch Gesetzgeber in den USA oder der EU, diese Eingriffe zu regulieren, gehen Kritiker*innen nicht weit genug. Dabei sind wir auf große Konzerne, die alle Daten zentral auf ihren eigenen Servern lagern, gar nicht mehr angewiesen. Längst gibt es dezentrale Alternativen, die ganz in der Hand derer liegen, die am stärksten von den Netzwerken profitieren sollten: der Nutzer*innen. Wir blicken daher darauf, was man für deren Nutzung wissen sollte.
Viele Nutzer*innen stellen sich regelmäßig die Frage, ob Social-Media-Apps ihnen gut tun – und wenn nein, wieso sie ihre Accounts dort nicht einfach aufgeben. Soziale Netzwerke können schlechte Gefühle verstärken, indem sie einen wie beim Doomscrolling ans Handy kleben oder auch Nachrichtenmüdigkeit bewirken. Außerdem wird dort Werbung angezeigt. Fast die Hälfte der Menschen unter 34 fühlen sich nach eigener Aussage durch digitale Medien gestresst. Aber wieso löscht man die Apps dann nicht einfach? Eine Antwort auf diese Frage heißt Instant Gratification. Also die schnelle Belohnung durch Likes, bunte Farben und lustige Videos.
Eine andere Antwort heißt Netzwerkeffekt. Das ist der Grund, wieso manche vielleicht noch einen Facebook-Account haben, wieso viele sich damals den Messenger Signal heruntergeladen haben oder wieso zahlreiche Zuschauer*innen einmal im Jahr Wetten dass..? geschaut haben, obwohl sie sich während der ersten Minuten über diese Entscheidung ärgern. Dieser Netzwerkeffekt kann beschrieben werden als FOMO (fear of missing out, die Angst, etwas zu verpassen) der Gruppendynamik.
KURZ ERKLÄRT:
Als Netzwerkeffekt bezeichnet man den Effekt, dass Produkte attraktiver und nützlicher wirken und werden, weil viele sie nutzen. Gut designte und praktische Social Apps scheitern oft nur, weil sie kaum Nutzer*innen vorweisen können.
Nichts ist umsonst – nicht einmal die Netzwerke, die nichts kosten
Eine bekannte Weisheit lautet: Wenn es nichts kostet, bist du das Produkt. Denn klar: Die Unternehmen, die Anbieter der sozialen Netzwerke, in denen wir uns vernetzen, Freundschaften knüpfen oder womöglich auch die Liebe unseres Lebens finden, haben nicht das primäre Interesse, dass wir dort eine gute Zeit verbringen. Sie haben ein Interesse daran, dass wir dort viel Zeit verbringen. Denn umso mehr Möglichkeiten gibt es, uns dort Werbung anzuzeigen.
Die Art der Werbeplatzierung hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Hing sie früher noch an Litfasssäulen oder lief zwischen Fernsehsendungen und lieferte kaum Aussagen darüber, wer die Werbung gesehen und was die Person damit gemacht hat, haben digitale Medien quasi alles verändert. Durch direktes Feedback und größere Datenlage kam die Disziplin Microtargeting hinzu: Nun ist es möglich, sehr detaillierte Attribute auszuwählen, um ein bestimmtes Publikum anzusprechen. Geschiedene Männer zwischen 30 und 50, die ein großes Interesse für Rockmusik und Wanderschuhe haben und aus dem Kreis Gütersloh kommen? – Kein Problem, hier sind 5.535 Menschen, die diesem Profil entsprechen.
Um solche Angaben über Nutzer*innen zu erfassen, versuchen die Netzwerke, möglichst viel aus dem Nutzungsverhalten herauszulesen. Denn: Nahezu keine dieser Informationen wurde händisch im Registrierungsprozess angegeben. Das bedeutet im Umkehrschluss: Kein Like, kein Kommentar, nicht einmal das Lesen von Posts bleibt unbemerkt, es fließt in ein individuelles Werbeprofil ein.
Wie sich die Communitys die Netzwerke zurückholen
Es gibt eine Gegenbewegung zu diesen zentralisierten Plattformen und auf Kapital ausgerichteten Konzernen. Ihre Angebote ähneln im Funktionsumfang häufig den vertrauten sozialen Netzwerken wie X (ehemals Twitter), Facebook oder Instagram – nur steckt kein großes Unternehmen dahinter, sondern Nutzer*innen, die eigene Server einbringen. Dieses förderale Prinzip einiger vieler Server (oder wie es häufig heißt: Instanzen) und Anbieter, die gemeinsam ein Netzwerk stellen, nennt man Fediverse. Die Angebote im Fediverse haben keine kommerziellen Absichten, sind also werbefrei, basieren in der Regel auf Software, deren Quellcode für alle offen einsehbar zur Verfügung steht, und sind interoperabel – sprich: Wer sich auf dem einen Dienst anmeldet, kann sein Login auch für einen anderen Dienst nutzen.Einer der bekanntesten Dienste im Fediverse ist der Microblogging-Service Mastodon, dessen Funktionsumfang am ehesten X ähnelt.
Nicht erst seit der Übernahme durch Elon Musk hat X mit enormer Kritik zu kämpfen: Das Netzwerk sei willkürlich geführt, unterbinde auf der einen Seite freie Berichterstattung durch die Sperrung der Accounts von Journalist*innen, fördere auf der anderen Seite aber undemokratische Positionen und Desinformationen.
Mastodon hat nach eigenen Angaben derzeit etwa 2,1 Millionen monatlich aktive Nutzer*innen – und allein an dem Wochenende, als Elon Musk ein Leselimit bei Twitter einführte, gab es laut Mastodon-Gründer Eugen Rochko 110.000 Neuanmeldungen. Zum Vergleich: Instagram hat etwa 27,4 Millionen monatlich aktive Nutzer*innen, Facebook 24,5 Millionen und TikTok 20,6 Millionen – nur in Deutschland.
Dezentrale Alternativen im Fediverse
- Statt Twitter: Mastodon
Die derzeit präsenteste dezentrale Option Mastodon ist ein Microblogging-Angebot, das stark an X erinnert und in dem sich kurze Nachrichten in Echtzeit veröffentlichen lassen. Es basiert auf dem Protokoll ActivityPub und bietet auch andere Zugänge ins dezentrale Microblogging wie CalcKey oder Pleroma. - Statt Instagram: Pixelfed
Das Nutzungserlebnis bei Instagram ist geprägt von Algorithmen und präsenter Werbung. Pixelfed setzt ein Gegengewicht: Es ist algorithmen- und werbefrei. Bislang wurden dort über 13 Millionen Bilder hochgeladen. - Statt Facebook: Friendica
Friendica legt Wert auf Vernetzung, Events und Postings – also vieles, was Nutzer*innen bei Facebook schätzen oder geschätzt haben.
Es ist nicht alles Gold, was dezentral ist
Obwohl Mastodon, das Fediverse und dezentrale Ansätze ein Entwurf für Internetcommunitys ohne die Datensammelwut und algorithmische oder autokratische Einflussnahme von Unternehmensinhabern sein können, werden sie wie die Zahlen zeigen von der großen Masse noch nicht angenommen. Warum ist das so? Zum einen sind Netzwerke, die ehrenamtlich und aus nicht-kommerzieller Hand aufgesetzt worden, nicht so radikal und kompromisslos auf Nutzer*innenfreundlichkeit optimiert wie die etablierten Angebote der Unternehmen, deren Ziel, mehr Werbung zu verkaufen vor allem über lange Nutzungszeiten erzielt wird. Ihr primäres Interesse ist, durch Design, Inhalt und Einfachheit einen Sog zu kreieren. Während Instagram oder TikTok alles daran setzen, uns eine möglichst frustfreie, reibungslose Nutzungserfahrung zu bieten, birgt die Dezentralität einiger alternativer Angebote auch eine sperrige Tech-Affinität: Wer sich zuerst entscheiden muss, auf welcher Instanz er oder sie stattfinden möchte, ist vielleicht schneller wieder weg, als man Fediverse sagen kann. Es ist eben einfach bequemer, die leicht zu bedienende App zu nutzen – dafür nehmen viele die Preisgabe ihrer Daten in Kauf.
Der Internetforscher Michael Seemann formuliert es so: „Das Problem ist, dass die Vorteile von dezentralen Netzwerken in der Benutzung erst mal nicht offensichtlich sind. Im Gegenteil. Dezentralität bedeutet immer mehr Komplexität, aufwendigeres Onboarding, nerviges Erklären. Es macht keinen Spaß und bringt im Grunde keine anfassbaren Vorteile.” Dennoch gebe es langfristige Vorzüge, so der Forscher: „Der wesentliche Vorteil dezentraler Systeme liegt in der Resilienz. Ein dezentrales Netzwerk kann niemand ausknipsen oder für 44 Milliarden einfach kaufen und kaputtmachen. Das ist ein wichtiger Wert, aber es braucht Zeit, dass sich dieser Wert in den Köpfen festpflanzt.” Heißt also: Vielleicht dauert es einfach noch, bis sich das Fediverse durchsetzt.
Zum anderen sind soziale Netzwerke mehr als nur Websites, auf denen sich zufälligerweise Menschen tummeln, deren Inhalte wir lesen können. Soziale Netzwerk sind Räume, in denen Diskurse geführt, Freundschaften oder Beziehungen geschlossen werden oder Popkultur geprägt wird – und sie sind allen Widrigkeiten zum Trotz Räume, in denen Wissen und Informationen demokratisiert, die Leisen laut werden und Nachrichten in Echtzeit durch die Welt gesendet werden können. Diese Netzwerkeffekte sind es, die uns in unseren digitalen Wohnzimmern halten, obwohl das Sofa im Nebenraum womöglich viel bequemer sein könnte.
Der Weg in eine dezentralen Welt führt also auch darüber, ein entsprechendes Vorbild zu sein. Be the change you want to see – solange reichweitenstarke Person die klassischen Netzwerke nutzen, bieten sie auch Anlass, sich weiterhin dort einzuloggen. Es gibt viele prominente Beispiele für Vorstöße ins Dezentrale: Die Tagesschau veröffentlicht ihre Informationen auf Mastodon – sogar über eine eigene Instanz. Viele Regierungsbehörden sind im Fediverse anzutreffen – und auch Persönlichkeiten wie Jan Böhmermann nutzen ihre Reichweite, um für Mastodon zu werben.
VOR- UND NACHTEILE DEZENTRALER PLATTFORMEN GEGENÜBER “KLASSISCHEN” SOZIALEN NETZWERKEN
(+) Werbefreiheit und Unabhängigkeit gegenüber wirtschaftlichen Interessen
Große Konzerne agieren im Sinne ihres Kapitals und der Aktionär*innen. Dezentrale Netzwerke liegen in der Hand derer, die sie benutzen. Das bedeutet auch Werbefreiheit.
(+) Keine Beeinflussung durch Algorithmen
Nutzer*innen haben die Kontrolle über das, was sie sehen und wieso. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass ein Netzwerk versteht, welche Inhalte man konsumieren will, und entsprechend auswählt.
(+) Zukunftssicherheit
Wenn der Server, die Instanz oder sogar das Netzwerk das Zeitliche segnen sollten, gehören die Daten weiterhin den Nutzer*innen oder denen, die den Server betreiben, und nicht Unternehmen oder Kapitalgeber*innen.
(-) Sperrigkeit
Die Optimierung auf die Kapitalisierung der werbeorientierten Plattformen führt auch zu einem Komfort, der die Nutzungsdauer erhöht. Diese Vorzüge fehlen in den dezentralen Plattformen häufig. Plus: Vor der Nutzung muss man sich grundlegend mit der Funktionsweise auseinandersetzen – und das kostet Zeit.
(-) Gebaut auf Ambitionen
Das größte Problem von größtenteils ehrenamtlichen Serverbetreiber*innen ist, dass sie jederzeit und folgenlos entscheiden können, ihre Tätigkeit aufzugeben. Seine Daten dennoch zu behalten, setzt eigenes Zutun voraus.
(-) Fehlende Netzwerkeffekte
Soziale Netzwerke oder Messenger erfüllen für die meisten Menschen ihren Sinn, wenn Freund*innen, die Familie oder eine relevante Anzahl bestimmter Menschen diese nutzen. Wer mitkriegen will, was Mitschüler*innen von früher heute so machen, wird bei dezentralen Alternativen bislang weniger fündig als bei den „großen”.
Wenn die Tech-Unternehmen Dezentralität für sich entdecken
Diese verstärkte Aufmerksamkeit ist es auch, die Dezentralität wiederum für die großen Techunternehmen spannend macht – so hat Meta mit Threads eine eigene App an den Start gebracht, die auf demselben Protokoll basiert wie Mastodon, sich anfühlt wie X – und innerhalb der ersten 24 Stunden 30 Millionen Anmeldungen generiert hat. Zum Vergleich: X hat seinerzeit für die erste Million zwei Jahre gebraucht. Und Facebook immerhin zehn Monate.
Für Michael Seemann sieht Meta hier die Chance auf eine Win-win-Situation: „Selbst die paar Millionen Fediverse-Nutzer*innen können in der Frühphase für Threads einen relevanten Kern bilden, von dem aus man weitere Netzwerkeffekte generieren kann, um zu wachsen. Aber das scheint mir irrelevanter zu sein, als viele glauben. Relevanter ist glaube ich das Virtue signalling (also ein Hervorheben moralischer Werte, Anm. d. Red.).”
All das gibt den Fediverse-Nutzer*innen Grund zur Sorge: Hier könnte ein kapitalorientiertes Unternehmen durch große Werbeeffekte und unverhältnismäßig starke Registrierungswelle, eine algorithmusbasierte Nutzung oder sogar Werbeintegration nachhaltig Schaden für die Dezentralität anrichten. Die Hoffnung vieler anderer: Hier könnte ein kapitalorientiertes Unternehmen einen einfachen und aufmerksamkeitsträchtigen Ansatz schaffen, einen Weg ins Dezentrale zu finden.
Wie gesagt: Es ist kompliziert. Und das bleibt es auch erst mal: Ausgerechnet die Vernetzung zentraler und dezentraler Angebote ist es, die Instagram daran hindert, Threads nach Deutschland zu bringen: Derzeit verstößt die App noch gegen EU-Datenschutzgesetze.
Es bleibt spannend, wie viele Nutzer*innen sich für die dezentralen Netzwerke entscheiden werden – gerade in der EU, wo andere Netzwerke wie X durch Verwässerung der eigenen Stärken gerade Lücken reißen. So oder so profitieren die Communitys davon, dort selbstverantwortlich mit ihren Daten umzugehen und Vernetzung und Unterhaltung zu erleben.
ÜBER DEN AUTOR
Gavin Karlmeier ist Digitalberater und Formatentwickler. Er hat als Channel Manager die Neuausrichtung von 1LIVE begleitet und den-Podcast „wirreden“ entwickelt. Heute betreut Gavin Karlmeier die Audience-Development-Einheit des WDR-Newsrooms und entwickelt Podcasts für den Deutschlandfunk.
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Mastodon hat nach eigenen Angaben derzeit etwa 2,1 Millionen monatlich aktive Nutzer*innen – und allein an dem Wochenende, als Elon Musk das Leselimit zu X (ehemals Twitter) gebracht hat, gab es 110.000 Neuanmeldungen.