„Die meisten Verschwörungstheorien werden recycelt“
Interview mit Verschwörungsexpert*innen
Die Aufklärungsinitiative Der goldene Aluhut zählt zu Deutschlands bekanntesten Preisverleiher*innen für absurde Verschwörungstheorien. Im Kern geht es dabei um den Appell, nicht alles zu glauben, was im Netz zu lesen ist. Seit 2014, dem Start der Facebook-Gruppe unter demselben Namen, beobachten Gründerin Giulia Silberberger und später auch Mitarbeiter Rüdiger Reinhardt, wie sich etwa Chemtrail-Mythen und QAnon-Erzählungen auf Social Media verbreiten. Im mediakompetent-Interview erklären sie, woran Nutzer*innen ausgedachten Humbug von wissenschaftlicher Erklärung unterscheiden können und bei welchen Formulierungen man stutzig werden sollte.
Viele Menschen lesen Mystery-Thriller, wenn sie in eine Welt des Übernatürlichen und Geheimnisvollen eintauchen wollen. Andere öffnen eine Chatgruppe, in der sie alltägliche Ereignisse des Lebens als ein Resultat geheimer Machenschaften diskutieren. Trotz des relativ leicht überprüfbaren Wissens via Internet und der Fortschritte in der Wissenschaft finden Vorstellungen über beispielsweise Wettermanipulationen und gechippte Impfstoffe dort breite Resonanz. Sie münden in sogenannte Verschwörungstheorien. Giulia Silberberger und Rüdiger Reinhardt von der Initiative Der goldene Aluhut haben es sich zum Ziel gemacht, solche Glaubenssätze und falsche Fakten gerade auf Social-Media-Plattformen zu überwachen. Darüber hinaus geben sie in Workshops ihr Szene-Wissen weiter. Wie man mit Nachrichten umgehen soll, die einen verunsichern? Dazu haben sie eine klare Haltung.
mediakompetent: Es gibt echte Verschwörungen wie das massenhafte Abhören von Bürger*innen durch die NSA in den USA oder der Diesel-Abgasskandal in Deutschland. Und die sind nur herausgekommen, weil es Leute gab, die nachgehakt haben – in diesen Fällen Edward Snowden und Behörden-Angestellte. Sie haben dabei vielleicht sogar ihrem Bauchgefühl vertraut, definitiv aber Fakten hinterfragt. Verschwörungstheoretiker*innen zielen doch genau auf dasselbe. Sie versuchen aufzuklären. Was ist daran falsch?
Giulia Silberberger: An Aufklärung ist erst mal grundsätzlich gar nichts falsch. Die Frage ist aber, ob meine Aufklärung faktenbasiert ist und auf Umständen fußt, die man auch wirklich ändern kann. Oder folge ich einem gewissen Weltbild? Kapitalismuskritik in allen Ehren, aber nicht alles ist gleich gekauft oder unter der Hand gemacht worden. Doch das ist eben bei verschwörungsideologischen Mindsets die Grundannahme. Nichts sei so, wie es scheint. Geheime Mächte hätten sich überall verschworen. Wissenschaftliche Studien seien grundsätzlich gefälscht.
Rüdiger Reinhardt: Wenn ich vorher schon weiß, wer schuld ist, so das Mindset hier, dann suche ich ja unbewusst und krampfhaft nach irgendwelchen Dingen, die das bestätigen. Meine Forschungsarbeit ist dann insofern nichts wert, weil sie überhaupt nicht ergebnisoffen ist. Man stückelt sich seine Realität zusammen und präsentiert das als Aufklärung. Das mag dann vielleicht plausibel klingen, inhaltlich ist das in der Regel wenig aussagekräftig und wahrscheinlich auch komplett verkehrt.
So sieht Aufklärungsarbeit von Der goldene Aluhut auf Facebook aus: Es werden regelmäßig Fälle geteilt, die mit verschwörungstheoretischen Elementen arbeiten. Zu den drei Beispielen:
Chemtrail-Verschwörer*innen verdrehen Fakten über Geo-Engineering
mediakompetent: Nehmen wir mal das Beispiel Chemtrails, eine Verschwörungstheorie, die gut zu aktuellen Debatten um den Klimawandel passt. Der aufklärerische Aspekt ist ja hier, dass Verschwörungsgläubige das sogenannte Geo-Engineering anprangern. Diese wissenschaftliche Disziplin erforscht, wie der Treibhauseffekt durch technologische Lösungen künstlich reduziert werden kann. Da wird etwa diskutiert, dass Flugzeugflotten Gasgemische in die Atmosphäre sprühen könnten, die sich dann wie ein Sonnenschirm darauf legen. Wo genau kommen hier Verschwörungstheoretiker*innen vom Weg der Aufklärung ab?
Reinhardt: Wie du das hier schon beschreibst, gibt es eine gewisse Überlappung von wissenschaftlich korrekter Aussage und vorgeworfenen Tatsachenbeständen. Das ist genau das, was diese Verschwörungstheorie interessant macht. Chemtrails ist ein Kofferwort aus Contrails und Chemicals, zu deutsch Kondensstreifen und Chemikalien. Korrekt ist zum Beispiel, dass Kondensstreifen im Sinne von Flugzeugabgasen einen Einfluss auf unser Klima haben können. Denn sie wirken als Kondensationskeim für andere Wolken. Es bilden sich also Wolkenschichten, die bis zu 20 Kilometer breit sein können und zu verringerter Sonneneinstrahlung führen. Verschwörungstheoretiker*innen kommen nun aber mit dem Vorwurf, dass es ein weltweites System gibt, das Chemtrails verbreitet. Das gilt es zu hinterfragen.
Wahrscheinlichkeit des Scheitern einer Verschwörung
mediakompetent: Die Stichwörter „weltweites System“ und „Verschwörung“ beziehungsweise „Geheimhaltung“ klingen ja an und für sich schon wie Gegensätze.
Reinhardt: Ganz genau. Wir sehen ja auch, dass wenn Leute anfangen zu plappern, dies einen potenziellen Skandal früher oder später zutage bringt. Je mehr Menschen in eine angebliche Verschwörung verstrickt seien, desto eher müsste die Verschwörung scheitern. Hierzu gibt es eine interessante Untersuchung vom US-Krebsforscher David Grimes, der mit einem mathematischen Modell arbeitet. Bei einer Chemtrail-Verschwörung hätten wir es weltweit beispielsweise mit Hunderttausenden zu tun, die eingeweiht wären, Flugtanker zu kaufen und zu befüllen. Der logistische Aufwand müsste unglaublich groß sein, allein wenn wir uns ausmalen, was an einem Flughafen los sein müsste, um die Maschinen zusätzlich mit Passagieren und Catering abzufertigen.
Silberberger: Was Rüdiger hier beschreibt, ist auch eine typische Eigenschaft von Verschwörungsideologien. Fakten, die dagegen sprechen, etwa dass es keinerlei Belege für die Bildung von Chemtrails gibt, werden ignoriert oder mit irgendwas gerechtfertigt.
Verschwörungsgläubige arbeiten mit verkürzten Argumentationen
mediakompetent: Verschwörungsgläubige rechtfertigen ja die Bildung von Chemtrails mit direkten gesundheitlichen Folgen wie Asthma, Alzheimer, Husten, Allergien, weil irgendwelche Chemikalien in die Luft verteilt würden. Woran erkenne ich als Social-Media-Nutzer*in, dass das tatsächlich ausgedachter Humbug ist und nicht eine wissenschaftliche Erklärung?
Silberberger: Die Recherche macht es aus. Welche konkreten Belege werden vorgebracht? Ich muss mir bewusst werden, dass Verschwörungstheoretiker*innen mit verkürzten Argumentationen arbeiten. Einfache Antworten auf komplexe Umstände ist hier das Stichwort. Mit dem Kommentar „Chemtrails sind am Himmel und ich habe Kopfschmerzen“ meint jemand, das eine verursacht das andere. In der Wissenschaft sind die Dinge aber komplizierter, denn es gibt viele weitere Einflussfaktoren. Ich könnte dann also zum Beispiel googeln, ob es Studien zur Frage gibt, wie das Wetter auf den Kopf schlägt und stelle dann vielleicht fest, dass Zusammenhänge gar nicht so einfach herzustellen sind, wie auch eine Studie im Auftrag des Umweltbundesamts zeigt.
Reinhardt: Wer etwas Wissenschaftliches zu sagen hat, der publiziert auch eher in wissenschaftlichen Magazinen. Dort korrigiert sich Wissenschaft quasi nach vorne, indem einer etwas behauptet und andere sich in den Diskurs einbringen, weitere Experimente hervorbringen – und das alles zusammen ergibt einen neuen Erkenntnisgewinn. Bei Verschwörungstheorien steht die Erkenntnis, also das Ergebnis, unverrückbar seit Anfang fest.
Pseudowissenschaftler*innen gehen dann in der Regel den direkten Weg zu Youtube oder sie veröffentlichen Bücher, um Geld zu verdienen, und das meist im Selbstverlag oder in einschlägigen Szene-Verlagshäusern wie dem Kopp-Verlag, der eine unglaubliche Bandbreite an Schwurbel-Literatur im Sortiment hat, ergänzt um Unmengen sinnfreier sogenannter Blind-Produkte, etwa Reiseführer, die sehr gefragt sind und günstig angeboten werden, aber nicht direkt mit der Thematik von Kopp zu tun haben.
Über die Interviewten
Giulia Silberberger ist Gründerin und Geschäftsführerin der Berliner Aufklärungsinitiative Der goldene Aluhut. Die 42-Jährige war in ihrer Kindheit und Jugend Mitglied der umstrittenen Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas. Nach ihrem Austritt 2007 suchte sie sich psychotherapeutische Unterstützung, weil sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt war. Seither engagiert sich Giulia gegen Verschwörungsideologien, Fake News und ideologischen Missbrauch sowie für politische Bildung und Medienkompetenz an Schulen und Bildungseinrichtungen.
Rüdiger Reinhardt arbeitete als IT-Elektroniker und Mediengestalter, bevor er 2017 zur Aufklärungsinitiative Der goldene Aluhut kam und dort seit 2020 Assistent der Geschäftsführung sowie seit 2021 stellvertretender Projektleiter “The Facts Project” ist. Der 46-Jährige war zuvor mehrere Jahre als ehrenamtlicher Faktenchecker für diverse Institutionen aktiv, darunter Mimikama. Seine Schwerpunktthemen bei der Aufklärungsarbeit liegen in den Bereichen Luft- und Raumfahrt, Physik sowie Wissenschaft im Allgemeinen, um mit diesem Hintergrund Pseudowissenschaften zu entlarven.
Teufelskreis zwischen Angst und Verschwörungsglauben
mediakompetent: Manchmal ist es aber so, dass man trotzdem dem Post glaubt, auch wenn alle Fakten dagegen sprechen.
Reinhardt: Jetzt kommen wir dahin, wie Verschwörungserzählungen funktionieren. Wir müssen uns selbst reflektieren und fragen: Wieso möchte ich glauben, dass das wahr ist, obwohl doch die Fakten dagegen sprechen? Welchen Mehrwert habe ich von dieser Erzählung? Welche Bedürfnisse befriedigt sie bei mir? Welche Ängste, Sorgen, Nöte werden da angesprochen?
Silberberger: Psychologische Faktoren wie Emotionen und insbesondere Angst ist unheimlich relevant. Es gibt einen Teufelskreis. Angst hält Verschwörungsglauben aufrecht und Verschwörungsglaube hält Angst aufrecht und bindet mich daran. Und das bringt uns zum nächsten Charakteristikum von Verschwörungserzählungen. Sie präsentieren gleichzeitig eine Lösung, die nicht machbar ist. Die ultimative Heilung durch einen sogenannten Dimensionssprung zum Beispiel.
Viele Leuten glauben, dass die Menschheit in eine andere Dimension aufsteigen kann, dass wir Geistwesen werden. Chemtrails würden uns nach dieser Logik aber vernebeln. Wir müssten uns also erst von den Chemtrails freimachen, damit wir diese Schwingung erfahren und aufsteigen können. Das ist hochspirituell und überlappt sich mit religiösen und esoterischen Ansichten von Sekten. Es geht nicht um Fakten, sondern um Weltbilder und um das, was ich vielleicht schon kenne, was mir vertraut vorkommt und in was ich eventuell erzogen worden bin.
Strategien für den Umgang mit Unsicherheiten
mediakompetent: Laut Forschung sind ja vor allem Menschen, die schlecht mit Unsicherheit und Unstimmigkeiten umgehen können, anfällig für Verschwörungstheorien. Wie können wir also besser mit Unsicherheiten umgehen?
Silberberger: Aus persönlicher Erfahrung mit den Zeugen Jehovas kann ich sagen: Für mich war die Konsequenz bei meinem Ausstieg, das Vertrauen in mir selbst zu finden. Mit dieser Unsicherheit vor einem Weltuntergang umzugehen, wie es uns dort eingetrichtert wurde, bedeutete, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und nicht auf andere zu vertrauen. Ich hatte therapeutische Unterstützung und fing an, mich mit Medienkompetenz und Faktencheck zu beschäftigen und die grundlegenden Fragen zu stellen. Welchen Mehrwert habe ich vom Glauben? Wer profitiert von meiner Angst? Wo wird Verschwörungsglaube weiterverbreitet? Welche neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es? Das hat mir nicht nur Selbstbewusstsein gegeben, sondern auch das Vertrauen, mit anderen Fake News umgehen zu können. Heute nehme ich solche Situationen gerne als Herausforderung an.
Reinhardt: Ich glaube, das Wichtigste ist, im Notfall jemanden zu fragen, der Ahnung vom Thema hat. Man sollte sich über die Person aber genau informieren, die einem da als Experte vorgestellt wird, und nicht jedem wichtig klingenden Titel Vertrauen schenken. Oft lassen sich Menschen davon täuschen, dass jemand “Professor” ist oder sogar mal einen Nobelpreis gewonnen hat. Ein Beispiel ist Sucharit Bhakdi, Professor im Ruhestand, der vor vielen Jahren in der Mikrobiologie geforscht hat. Seine Thesen zur Corona-Pandemie haben herzlich wenig mit Virologie zu tun, und auch hier sind wir dann wieder beim wissenschaftlichen Publizieren. Das hat Bhakdi eben nicht getan, stattdessen hat er ein Buch verkauft und YouTube-Videos gemacht. Seine Alma Mater hat sich ausdrücklich von ihm distanziert und zwar so scharf wie es überhaupt geht, wenn man zwischen den Zeilen liest. Auch dies ist ein eindeutiges Indiz für seine Rolle in der wissenschaftlichen Fachwelt.
Auf düstere Metaphern und Schlagwörter achten
mediakompetent: Bei welchen konkreten Formulierungen, Bildern etc. in Beiträgen sollte ich als Leser*in stutzig werden?
Silberberger: Grundsätzlich kann man auf Schlagwörter achten. Klassiker sind etwa „Eliten“, „Zionisten“, „die da oben“ und „gesteuertes System“. Im konkreten Fall der Chemtrail-Verschwörungserzählung sind es beispielsweise die Wörter „Geo-Engineering“, „Wettermanipulation“ und für mehr Wissenschaftlichkeit „HAARP-Himmel“ oder „elektromagnetische Frequenzen“. Manchmal werden auch düstere Metaphern genutzt wie „Wolkenpanzer“ oder „Die Vernichter allen Lebens“, um Angst zu erzeugen und den imaginären Feind schon vor das Auge des Lesenden zu projizieren. Bei Bildern ist das dann ähnlich. Oft sehe ich im Netz Totenköpfe und gerade in der Anti-Impf-Szene weinende Babys mit Spritzen im Arm als Bildmotive. Mit einem Bildbearbeitungsprogramm wird dann beispielsweise auch eine Kontur um das Hauptmotiv gezogen, um den dramatischen Effekt zu erhöhen.
Reinhardt: Wenn solche Begriffe, wie Giulia sie eben erwähnt hat, fallen, sollte man in der Tat vorsichtig sein. Oft steckt hinter logisch und wissenschaftlich klingenden Behauptungen oder Erklärungen auch sogenanntes Cherrypicking. Das ist eine typische Rhetorik-Technik, bei der einzelne Punkte aus wissenschaftlichen Quellen wie National Geographic oder aus BBC-Dokus zitiert werden, die für die eigene Argumentation logisch klingen. Wenn man sich aber dann die Originalquelle anschaut, stellt man in der Regel fest, dass da Dinge aus dem Zusammenhang gerissen wurden.
Nutzer*innen teilen Beiträge auch ungelesen
mediakompetent: Welche Warnsignale gibt es für einen selbst, die verdeutlichen, dass man gerade abdriftet?
Silberberger: Den Begriff „Abdriften” mag ich in diesem Zusammenhang nicht. Es geht eher um die Frage, ob ich von dem Social-Media-Post abgeholt werde beziehungsweise ob ich den Drang verspüre, den Post weiterzuverbreiten. Eine Studie der Columbia University von 2016 hat zum Beispiel 2,8 Millionen Tweets und die dazugehörigen Klicks untersucht, und die Forscher kommen zu einem interessanten Ergebnis: 59 Prozent der Twitter-Nutzer retweeteten beziehungsweise teilten Posts ungelesen. Das ist erschreckend. Deshalb sollte der erste Impuls sein, eine Nachricht nicht zu teilen, bevor man nicht den Inhalt geprüft und auch die Form des Textes bewertet hat. Ist es vielleicht ein satirischer oder journalistischer Text? Ist es ein privater Blog?
Reinhardt: Da stimme ich Giulia bei. Grundsätzlich hilft es, erst mal ruhig zu bleiben, sich nicht von seinen Gefühlen leiten zu lassen und vielleicht auch zu schauen, ob es dazu bereits einen Faktencheck gibt von Redaktionen und Initiativen, die sich auf Falschmeldungen spezialisiert haben.
mediakompetent: Giulia Silberberger, du hast die Aufklärungsorganisation Der goldene Aluhut 2014 gegründet. Was sind heute die drängendsten Probleme, mit denen ihr als Aufklärer*innen zu kämpfen habt?
Silberberger: Früher bestand unsere Aufklärungsarbeit primär darin, den Leuten begreiflich zu machen, dass Verschwörungstheorien überhaupt existieren und dass die Leute, die daran glauben, nicht einfach nur lustige Spinner mit Aluhut sind. Im Zuge der Pandemie und der wachsenden Gewalt und des Terrors durch verschwörungsgläubige Menschen hat sich die Aufklärungsarbeit massiv gewandelt.
Verschwörungstheorien als Wahlkampf-Strategie
mediakompetent: Inwiefern?
Silberberger: Die Awareness ist da, jetzt brauchen wir Lösungen. Was sich wahnsinnig verstärkt hat, ist, dass populistische Parteien weltweit Verschwörungstheorien für ihre Zwecke missbrauchen. Das hat angefangen mit der verschwörungsideologischen Gruppe QAnon in den USA. Und jetzt haben wir in Deutschland insbesondere die AfD, die dafür bekannt ist mit Verschwörungstheorien zu werben, und die Partei Die Basis, die sich konkret aus der Querdenker-Bewegung gebildet hat und somit direkt als Verschwörungstheoretiker-Partei bezeichnet werden kann.
Eine andere Beobachtung, die ich gemacht habe, ist, dass Verschwörungsgruppen immer häufiger versuchen, Jugendliche zu rekrutieren. Solche, die sich Sorgen um die Zukunft und unseren Planeten machen, aber nicht wissen, wie sie sich engagieren können. Viele junge Menschen sind zu recht wütend und fühlen eine Art „gerechten Zorn und Tatendrang”. Da entscheidet es sich jetzt eben wie bei Erwachsenen auch, ob sie an seriöse Organisationen und Aktivisten geraten oder an Schwurbler. Das gilt natürlich auch für religiöse Verschwörungsgruppen wie die Samuel Eckert Youngsters. Die richten sich auch speziell an Jugendliche in Sinnkrisen, die noch nicht wissen, wer sie sind und wohin die Reise ihres Lebens gehen soll.
Die meisten Verschwörungstheorien werden wiederverwertet
mediakompetent: Werden Verschwörungstheorien eigentlich immer nur recycelt? Oder gibt es jetzt tatsächlich neue Verschwörungstheorien?
Silberberger: Die meisten Verschwörungstheorien werden tatsächlich recycelt. In der Regel werden dem Anlass entsprechend nur ein paar Eckdaten ausgetauscht. Beispielsweise gab es bereits während der Ebola-Epidemie von 2014 bis 2016 Erzählungen um Bill Gates, Mikrochips in Impfungen und einen gezielten Virusausbruch zur Destabilisierung der Gesellschaftsordnungen. Als das Coronavirus aufkam, wurde aus der „EboLIE” einfach die „PLANdemie”, und die Verschwörungstheorien wurden entsprechend angepasst. Insgesamt bleiben die großen Feindbilder und Schreckensszenarien wie Vergiftung, Diktatur, Unterdrückung und Weltuntergang gleich. Bei Großereignissen wie Anschlägen oder Kriegsausbrüchen beobachte ich in der Regel auch ein spezielles Muster.
mediakompetent: Welches spezielle Muster meinst du?
Silberberger: Auf Social-Media-Plattformen dauert es keine fünf Minuten, bis die ersten Verschwörungserzählungen in den Kommentarspalten auftauchen. Mit diesem Geschwurbel werden dann Blogbeiträge geschrieben und Youtube-Videos produziert und diese dann als Beleg für die angebliche Verschwörung herangezogen. Ich bezeichne das gerne als Circle of Geschwurbel. Es ist wie ein Kreislauf, um den sich eine Netz-Community bildet und die ihn unterstützt.
Reinhardt: Ja, es gibt selten neue Verschwörungstheorien. Wenn das passiert, handelt es sich meist um eine Ergänzung von bestehenden Erzählungen. Relativ neu ist zum Beispiel QAnon, in der einflussreichen Personen der Öffentlichkeit pädophile und satanistische Handlungen unterstellt werden. Und letztlich ist das auch ein Internetphänomen, da es auf dem Imageboard 8chan entstanden ist, mit einer mächtigen Community, die einen realen Einfluss auf die Gesellschaft und Politik hat, da es große Schnittmengen mit Trump-Fans, evangelikalen Christen, Reichsbürgern und anderen Endzeit-Erzählungen gibt.
Popkulturelle Elemente finden sich auch wieder, denn die Adrenochrom-Anspielung ist ein Zitat aus dem Roman Fear and Loathing in Las Vegas von Hunter S. Thompson. Sie können Verschwörungserzählungen miteinander verknüpfen, Brücken bauen. Bei den Chemtrail-Erzählungen glaubt ein Teil der Anhängerschaft beispielsweise an das sogenannte „Project Blue Beam”. Dies soll ein gigantisches Netzwerk an angeblichen Hochfrequenz-Lasersatelliten sein, welches religiöse Erscheinungen an den Himmel projizieren soll. Richtig neu erfunden werden Verschwörungserzählungen aber eigentlich keine. Alles war schon mal in irgendeiner Form da oder wurde entlehnt oder verknüpft.
Weiterführende Links
- Spiegel-Artikel zur Verschwörungstheorie-Formel „Einer hätte die Wahrheit längst ausgeplaudert“ vom 28. Januar 2016
- Infotext vom Deutschen Wetterdienst „Allgemeines zur Wetterfühligkeit“ vom 24. Februat 2015
- Geo-Artikel „Wetterfühligkeit: Temperatursturz, Tiefdruck, Gewitter – macht uns das Wetter krank?“ vom 21. Juli 2022
Bildquellen: Der goldene Aluhut | Bildbearbeitung: MvonS
Über die Autorin
Victoria Graul ist freie Journalistin und engagiert sich auf vielen Ebenen mit eigenen Workshops und Vorträgen zu den Themen Faktencheck, Desinformation und Medienkompetenz. Sie betreibt den Podcast „Digga Fake – Fake News & Fact-Checking“. Davor arbeitete sie als Online-Redakteurin, unter anderem für die Freie Presse und das RND RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Schon gewusst?
Cherry-Picking, zu deutsch Rosinenpickerei, ist ein rhetorischer Trick der Manipulation. Dabei werden Informationen bewusst so ausgewählt und aus dem Kontext gerissen, dass sie die eigene Position stützen. Damit wirken Verschwörungstheorien besonders überzeugend.
„Die meisten Verschwörungstheorien werden recycelt“
Interview mit Verschwörungsexpert*innen
Die Aufklärungsinitiative Der goldene Aluhut zählt zu Deutschlands bekanntesten Preisverleiher*innen für absurde Verschwörungstheorien. Im Kern geht es dabei um den Appell, nicht alles zu glauben, was im Netz zu lesen ist. Seit 2014, dem Start der Facebook-Gruppe unter demselben Namen, beobachten Gründerin Giulia Silberberger und später auch Mitarbeiter Rüdiger Reinhardt, wie sich etwa Chemtrail-Mythen und QAnon-Erzählungen auf Social Media verbreiten. Im mediakompetent-Interview erklären sie, woran Nutzer*innen ausgedachten Humbug von wissenschaftlicher Erklärung unterscheiden können und bei welchen Formulierungen man stutzig werden sollte.
Viele Menschen lesen Mystery-Thriller, wenn sie in eine Welt des Übernatürlichen und Geheimnisvollen eintauchen wollen. Andere öffnen eine Chatgruppe, in der sie alltägliche Ereignisse des Lebens als ein Resultat geheimer Machenschaften diskutieren. Trotz des relativ leicht überprüfbaren Wissens via Internet und der Fortschritte in der Wissenschaft finden Vorstellungen über beispielsweise Wettermanipulationen und gechippte Impfstoffe dort breite Resonanz. Sie münden in sogenannte Verschwörungstheorien. Giulia Silberberger und Rüdiger Reinhardt von der Initiative Der goldene Aluhut haben es sich zum Ziel gemacht, solche Glaubenssätze und falsche Fakten gerade auf Social-Media-Plattformen zu überwachen. Darüber hinaus geben sie in Workshops ihr Szene-Wissen weiter. Wie man mit Nachrichten umgehen soll, die einen verunsichern? Dazu haben sie eine klare Haltung.
mediakompetent: Es gibt echte Verschwörungen wie das massenhafte Abhören von Bürger*innen durch die NSA in den USA oder der Diesel-Abgasskandal in Deutschland. Und die sind nur herausgekommen, weil es Leute gab, die nachgehakt haben – in diesen Fällen Edward Snowden und Behörden-Angestellte. Sie haben dabei vielleicht sogar ihrem Bauchgefühl vertraut, definitiv aber Fakten hinterfragt. Verschwörungstheoretiker*innen zielen doch genau auf dasselbe. Sie versuchen aufzuklären. Was ist daran falsch?
Giulia Silberberger: An Aufklärung ist erst mal grundsätzlich gar nichts falsch. Die Frage ist aber, ob meine Aufklärung faktenbasiert ist und auf Umständen fußt, die man auch wirklich ändern kann. Oder folge ich einem gewissen Weltbild? Kapitalismuskritik in allen Ehren, aber nicht alles ist gleich gekauft oder unter der Hand gemacht worden. Doch das ist eben bei verschwörungsideologischen Mindsets die Grundannahme. Nichts sei so, wie es scheint. Geheime Mächte hätten sich überall verschworen. Wissenschaftliche Studien seien grundsätzlich gefälscht.
Rüdiger Reinhardt: Wenn ich vorher schon weiß, wer schuld ist, so das Mindset hier, dann suche ich ja unbewusst und krampfhaft nach irgendwelchen Dingen, die das bestätigen. Meine Forschungsarbeit ist dann insofern nichts wert, weil sie überhaupt nicht ergebnisoffen ist. Man stückelt sich seine Realität zusammen und präsentiert das als Aufklärung. Das mag dann vielleicht plausibel klingen, inhaltlich ist das in der Regel wenig aussagekräftig und wahrscheinlich auch komplett verkehrt.
So sieht Aufklärungsarbeit von Der goldene Aluhut auf Facebook aus: Es werden regelmäßig Fälle geteilt, die mit verschwörungstheoretischen Elementen arbeiten. Zu den drei Beispielen:
Chemtrail-Verschwörer*innen verdrehen Fakten über Geo-Engineering
mediakompetent: Nehmen wir mal das Beispiel Chemtrails, eine Verschwörungstheorie, die gut zu aktuellen Debatten um den Klimawandel passt. Der aufklärerische Aspekt ist ja hier, dass Verschwörungsgläubige das sogenannte Geo-Engineering anprangern. Diese wissenschaftliche Disziplin erforscht, wie der Treibhauseffekt durch technologische Lösungen künstlich reduziert werden kann. Da wird etwa diskutiert, dass Flugzeugflotten Gasgemische in die Atmosphäre sprühen könnten, die sich dann wie ein Sonnenschirm darauf legen. Wo genau kommen hier Verschwörungstheoretiker*innen vom Weg der Aufklärung ab?
Reinhardt: Wie du das hier schon beschreibst, gibt es eine gewisse Überlappung von wissenschaftlich korrekter Aussage und vorgeworfenen Tatsachenbeständen. Das ist genau das, was diese Verschwörungstheorie interessant macht. Chemtrails ist ein Kofferwort aus Contrails und Chemicals, zu deutsch Kondensstreifen und Chemikalien. Korrekt ist zum Beispiel, dass Kondensstreifen im Sinne von Flugzeugabgasen einen Einfluss auf unser Klima haben können. Denn sie wirken als Kondensationskeim für andere Wolken. Es bilden sich also Wolkenschichten, die bis zu 20 Kilometer breit sein können und zu verringerter Sonneneinstrahlung führen. Verschwörungstheoretiker*innen kommen nun aber mit dem Vorwurf, dass es ein weltweites System gibt, das Chemtrails verbreitet. Das gilt es zu hinterfragen.
Wahrscheinlichkeit des Scheitern einer Verschwörung
mediakompetent: Die Stichwörter „weltweites System“ und „Verschwörung“ beziehungsweise „Geheimhaltung“ klingen ja an und für sich schon wie Gegensätze.
Reinhardt: Ganz genau. Wir sehen ja auch, dass wenn Leute anfangen zu plappern, dies einen potenziellen Skandal früher oder später zutage bringt. Je mehr Menschen in eine angebliche Verschwörung verstrickt seien, desto eher müsste die Verschwörung scheitern. Hierzu gibt es eine interessante Untersuchung vom US-Krebsforscher David Grimes, der mit einem mathematischen Modell arbeitet. Bei einer Chemtrail-Verschwörung hätten wir es weltweit beispielsweise mit Hunderttausenden zu tun, die eingeweiht wären, Flugtanker zu kaufen und zu befüllen. Der logistische Aufwand müsste unglaublich groß sein, allein wenn wir uns ausmalen, was an einem Flughafen los sein müsste, um die Maschinen zusätzlich mit Passagieren und Catering abzufertigen.
Silberberger: Was Rüdiger hier beschreibt, ist auch eine typische Eigenschaft von Verschwörungsideologien. Fakten, die dagegen sprechen, etwa dass es keinerlei Belege für die Bildung von Chemtrails gibt, werden ignoriert oder mit irgendwas gerechtfertigt.
Verschwörungsgläubige arbeiten mit verkürzten Argumentationen
mediakompetent: Verschwörungsgläubige rechtfertigen ja die Bildung von Chemtrails mit direkten gesundheitlichen Folgen wie Asthma, Alzheimer, Husten, Allergien, weil irgendwelche Chemikalien in die Luft verteilt würden. Woran erkenne ich als Social-Media-Nutzer*in, dass das tatsächlich ausgedachter Humbug ist und nicht eine wissenschaftliche Erklärung?
Silberberger: Die Recherche macht es aus. Welche konkreten Belege werden vorgebracht? Ich muss mir bewusst werden, dass Verschwörungstheoretiker*innen mit verkürzten Argumentationen arbeiten. Einfache Antworten auf komplexe Umstände ist hier das Stichwort. Mit dem Kommentar „Chemtrails sind am Himmel und ich habe Kopfschmerzen“ meint jemand, das eine verursacht das andere. In der Wissenschaft sind die Dinge aber komplizierter, denn es gibt viele weitere Einflussfaktoren. Ich könnte dann also zum Beispiel googeln, ob es Studien zur Frage gibt, wie das Wetter auf den Kopf schlägt und stelle dann vielleicht fest, dass Zusammenhänge gar nicht so einfach herzustellen sind, wie auch eine Studie im Auftrag des Umweltbundesamts zeigt.
Reinhardt: Wer etwas Wissenschaftliches zu sagen hat, der publiziert auch eher in wissenschaftlichen Magazinen. Dort korrigiert sich Wissenschaft quasi nach vorne, indem einer etwas behauptet und andere sich in den Diskurs einbringen, weitere Experimente hervorbringen – und das alles zusammen ergibt einen neuen Erkenntnisgewinn. Bei Verschwörungstheorien steht die Erkenntnis, also das Ergebnis, unverrückbar seit Anfang fest.
Pseudowissenschaftler*innen gehen dann in der Regel den direkten Weg zu Youtube oder sie veröffentlichen Bücher, um Geld zu verdienen, und das meist im Selbstverlag oder in einschlägigen Szene-Verlagshäusern wie dem Kopp-Verlag, der eine unglaubliche Bandbreite an Schwurbel-Literatur im Sortiment hat, ergänzt um Unmengen sinnfreier sogenannter Blind-Produkte, etwa Reiseführer, die sehr gefragt sind und günstig angeboten werden, aber nicht direkt mit der Thematik von Kopp zu tun haben.
Über die Interviewten
Giulia Silberberger ist Gründerin und Geschäftsführerin der Berliner Aufklärungsinitiative Der goldene Aluhut. Die 42-Jährige war in ihrer Kindheit und Jugend Mitglied der umstrittenen Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas. Nach ihrem Austritt 2007 suchte sie sich psychotherapeutische Unterstützung, weil sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt war. Seither engagiert sich Giulia gegen Verschwörungsideologien, Fake News und ideologischen Missbrauch sowie für politische Bildung und Medienkompetenz an Schulen und Bildungseinrichtungen.
Rüdiger Reinhardt arbeitete als IT-Elektroniker und Mediengestalter, bevor er 2017 zur Aufklärungsinitiative Der goldene Aluhut kam und dort seit 2020 Assistent der Geschäftsführung sowie seit 2021 stellvertretender Projektleiter “The Facts Project” ist. Der 46-Jährige war zuvor mehrere Jahre als ehrenamtlicher Faktenchecker für diverse Institutionen aktiv, darunter Mimikama. Seine Schwerpunktthemen bei der Aufklärungsarbeit liegen in den Bereichen Luft- und Raumfahrt, Physik sowie Wissenschaft im Allgemeinen, um mit diesem Hintergrund Pseudowissenschaften zu entlarven.
Teufelskreis zwischen Angst und Verschwörungsglauben
mediakompetent: Manchmal ist es aber so, dass man trotzdem dem Post glaubt, auch wenn alle Fakten dagegen sprechen.
Reinhardt: Jetzt kommen wir dahin, wie Verschwörungserzählungen funktionieren. Wir müssen uns selbst reflektieren und fragen: Wieso möchte ich glauben, dass das wahr ist, obwohl doch die Fakten dagegen sprechen? Welchen Mehrwert habe ich von dieser Erzählung? Welche Bedürfnisse befriedigt sie bei mir? Welche Ängste, Sorgen, Nöte werden da angesprochen?
Silberberger: Psychologische Faktoren wie Emotionen und insbesondere Angst ist unheimlich relevant. Es gibt einen Teufelskreis. Angst hält Verschwörungsglauben aufrecht und Verschwörungsglaube hält Angst aufrecht und bindet mich daran. Und das bringt uns zum nächsten Charakteristikum von Verschwörungserzählungen. Sie präsentieren gleichzeitig eine Lösung, die nicht machbar ist. Die ultimative Heilung durch einen sogenannten Dimensionssprung zum Beispiel.
Viele Leuten glauben, dass die Menschheit in eine andere Dimension aufsteigen kann, dass wir Geistwesen werden. Chemtrails würden uns nach dieser Logik aber vernebeln. Wir müssten uns also erst von den Chemtrails freimachen, damit wir diese Schwingung erfahren und aufsteigen können. Das ist hochspirituell und überlappt sich mit religiösen und esoterischen Ansichten von Sekten. Es geht nicht um Fakten, sondern um Weltbilder und um das, was ich vielleicht schon kenne, was mir vertraut vorkommt und in was ich eventuell erzogen worden bin.
Strategien für den Umgang mit Unsicherheiten
mediakompetent: Laut Forschung sind ja vor allem Menschen, die schlecht mit Unsicherheit und Unstimmigkeiten umgehen können, anfällig für Verschwörungstheorien. Wie können wir also besser mit Unsicherheiten umgehen?
Silberberger: Aus persönlicher Erfahrung mit den Zeugen Jehovas kann ich sagen: Für mich war die Konsequenz bei meinem Ausstieg, das Vertrauen in mir selbst zu finden. Mit dieser Unsicherheit vor einem Weltuntergang umzugehen, wie es uns dort eingetrichtert wurde, bedeutete, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und nicht auf andere zu vertrauen. Ich hatte therapeutische Unterstützung und fing an, mich mit Medienkompetenz und Faktencheck zu beschäftigen und die grundlegenden Fragen zu stellen. Welchen Mehrwert habe ich vom Glauben? Wer profitiert von meiner Angst? Wo wird Verschwörungsglaube weiterverbreitet? Welche neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es? Das hat mir nicht nur Selbstbewusstsein gegeben, sondern auch das Vertrauen, mit anderen Fake News umgehen zu können. Heute nehme ich solche Situationen gerne als Herausforderung an.
Reinhardt: Ich glaube, das Wichtigste ist, im Notfall jemanden zu fragen, der Ahnung vom Thema hat. Man sollte sich über die Person aber genau informieren, die einem da als Experte vorgestellt wird, und nicht jedem wichtig klingenden Titel Vertrauen schenken. Oft lassen sich Menschen davon täuschen, dass jemand “Professor” ist oder sogar mal einen Nobelpreis gewonnen hat. Ein Beispiel ist Sucharit Bhakdi, Professor im Ruhestand, der vor vielen Jahren in der Mikrobiologie geforscht hat. Seine Thesen zur Corona-Pandemie haben herzlich wenig mit Virologie zu tun, und auch hier sind wir dann wieder beim wissenschaftlichen Publizieren. Das hat Bhakdi eben nicht getan, stattdessen hat er ein Buch verkauft und YouTube-Videos gemacht. Seine Alma Mater hat sich ausdrücklich von ihm distanziert und zwar so scharf wie es überhaupt geht, wenn man zwischen den Zeilen liest. Auch dies ist ein eindeutiges Indiz für seine Rolle in der wissenschaftlichen Fachwelt.
Auf düstere Metaphern und Schlagwörter achten
mediakompetent: Bei welchen konkreten Formulierungen, Bildern etc. in Beiträgen sollte ich als Leser*in stutzig werden?
Silberberger: Grundsätzlich kann man auf Schlagwörter achten. Klassiker sind etwa „Eliten“, „Zionisten“, „die da oben“ und „gesteuertes System“. Im konkreten Fall der Chemtrail-Verschwörungserzählung sind es beispielsweise die Wörter „Geo-Engineering“, „Wettermanipulation“ und für mehr Wissenschaftlichkeit „HAARP-Himmel“ oder „elektromagnetische Frequenzen“. Manchmal werden auch düstere Metaphern genutzt wie „Wolkenpanzer“ oder „Die Vernichter allen Lebens“, um Angst zu erzeugen und den imaginären Feind schon vor das Auge des Lesenden zu projizieren. Bei Bildern ist das dann ähnlich. Oft sehe ich im Netz Totenköpfe und gerade in der Anti-Impf-Szene weinende Babys mit Spritzen im Arm als Bildmotive. Mit einem Bildbearbeitungsprogramm wird dann beispielsweise auch eine Kontur um das Hauptmotiv gezogen, um den dramatischen Effekt zu erhöhen.
Reinhardt: Wenn solche Begriffe, wie Giulia sie eben erwähnt hat, fallen, sollte man in der Tat vorsichtig sein. Oft steckt hinter logisch und wissenschaftlich klingenden Behauptungen oder Erklärungen auch sogenanntes Cherrypicking. Das ist eine typische Rhetorik-Technik, bei der einzelne Punkte aus wissenschaftlichen Quellen wie National Geographic oder aus BBC-Dokus zitiert werden, die für die eigene Argumentation logisch klingen. Wenn man sich aber dann die Originalquelle anschaut, stellt man in der Regel fest, dass da Dinge aus dem Zusammenhang gerissen wurden.
Nutzer*innen teilen Beiträge auch ungelesen
mediakompetent: Welche Warnsignale gibt es für einen selbst, die verdeutlichen, dass man gerade abdriftet?
Silberberger: Den Begriff „Abdriften” mag ich in diesem Zusammenhang nicht. Es geht eher um die Frage, ob ich von dem Social-Media-Post abgeholt werde beziehungsweise ob ich den Drang verspüre, den Post weiterzuverbreiten. Eine Studie der Columbia University von 2016 hat zum Beispiel 2,8 Millionen Tweets und die dazugehörigen Klicks untersucht, und die Forscher kommen zu einem interessanten Ergebnis: 59 Prozent der Twitter-Nutzer retweeteten beziehungsweise teilten Posts ungelesen. Das ist erschreckend. Deshalb sollte der erste Impuls sein, eine Nachricht nicht zu teilen, bevor man nicht den Inhalt geprüft und auch die Form des Textes bewertet hat. Ist es vielleicht ein satirischer oder journalistischer Text? Ist es ein privater Blog?
Reinhardt: Da stimme ich Giulia bei. Grundsätzlich hilft es, erst mal ruhig zu bleiben, sich nicht von seinen Gefühlen leiten zu lassen und vielleicht auch zu schauen, ob es dazu bereits einen Faktencheck gibt von Redaktionen und Initiativen, die sich auf Falschmeldungen spezialisiert haben.
mediakompetent: Giulia Silberberger, du hast die Aufklärungsorganisation Der goldene Aluhut 2014 gegründet. Was sind heute die drängendsten Probleme, mit denen ihr als Aufklärer*innen zu kämpfen habt?
Silberberger: Früher bestand unsere Aufklärungsarbeit primär darin, den Leuten begreiflich zu machen, dass Verschwörungstheorien überhaupt existieren und dass die Leute, die daran glauben, nicht einfach nur lustige Spinner mit Aluhut sind. Im Zuge der Pandemie und der wachsenden Gewalt und des Terrors durch verschwörungsgläubige Menschen hat sich die Aufklärungsarbeit massiv gewandelt.
Verschwörungstheorien als Wahlkampf-Strategie
mediakompetent: Inwiefern?
Silberberger: Die Awareness ist da, jetzt brauchen wir Lösungen. Was sich wahnsinnig verstärkt hat, ist, dass populistische Parteien weltweit Verschwörungstheorien für ihre Zwecke missbrauchen. Das hat angefangen mit der verschwörungsideologischen Gruppe QAnon in den USA. Und jetzt haben wir in Deutschland insbesondere die AfD, die dafür bekannt ist mit Verschwörungstheorien zu werben, und die Partei Die Basis, die sich konkret aus der Querdenker-Bewegung gebildet hat und somit direkt als Verschwörungstheoretiker-Partei bezeichnet werden kann.
Eine andere Beobachtung, die ich gemacht habe, ist, dass Verschwörungsgruppen immer häufiger versuchen, Jugendliche zu rekrutieren. Solche, die sich Sorgen um die Zukunft und unseren Planeten machen, aber nicht wissen, wie sie sich engagieren können. Viele junge Menschen sind zu recht wütend und fühlen eine Art „gerechten Zorn und Tatendrang”. Da entscheidet es sich jetzt eben wie bei Erwachsenen auch, ob sie an seriöse Organisationen und Aktivisten geraten oder an Schwurbler. Das gilt natürlich auch für religiöse Verschwörungsgruppen wie die Samuel Eckert Youngsters. Die richten sich auch speziell an Jugendliche in Sinnkrisen, die noch nicht wissen, wer sie sind und wohin die Reise ihres Lebens gehen soll.
Die meisten Verschwörungstheorien werden wiederverwertet
mediakompetent: Werden Verschwörungstheorien eigentlich immer nur recycelt? Oder gibt es jetzt tatsächlich neue Verschwörungstheorien?
Silberberger: Die meisten Verschwörungstheorien werden tatsächlich recycelt. In der Regel werden dem Anlass entsprechend nur ein paar Eckdaten ausgetauscht. Beispielsweise gab es bereits während der Ebola-Epidemie von 2014 bis 2016 Erzählungen um Bill Gates, Mikrochips in Impfungen und einen gezielten Virusausbruch zur Destabilisierung der Gesellschaftsordnungen. Als das Coronavirus aufkam, wurde aus der „EboLIE” einfach die „PLANdemie”, und die Verschwörungstheorien wurden entsprechend angepasst. Insgesamt bleiben die großen Feindbilder und Schreckensszenarien wie Vergiftung, Diktatur, Unterdrückung und Weltuntergang gleich. Bei Großereignissen wie Anschlägen oder Kriegsausbrüchen beobachte ich in der Regel auch ein spezielles Muster.
mediakompetent: Welches spezielle Muster meinst du?
Silberberger: Auf Social-Media-Plattformen dauert es keine fünf Minuten, bis die ersten Verschwörungserzählungen in den Kommentarspalten auftauchen. Mit diesem Geschwurbel werden dann Blogbeiträge geschrieben und Youtube-Videos produziert und diese dann als Beleg für die angebliche Verschwörung herangezogen. Ich bezeichne das gerne als Circle of Geschwurbel. Es ist wie ein Kreislauf, um den sich eine Netz-Community bildet und die ihn unterstützt.
Reinhardt: Ja, es gibt selten neue Verschwörungstheorien. Wenn das passiert, handelt es sich meist um eine Ergänzung von bestehenden Erzählungen. Relativ neu ist zum Beispiel QAnon, in der einflussreichen Personen der Öffentlichkeit pädophile und satanistische Handlungen unterstellt werden. Und letztlich ist das auch ein Internetphänomen, da es auf dem Imageboard 8chan entstanden ist, mit einer mächtigen Community, die einen realen Einfluss auf die Gesellschaft und Politik hat, da es große Schnittmengen mit Trump-Fans, evangelikalen Christen, Reichsbürgern und anderen Endzeit-Erzählungen gibt.
Popkulturelle Elemente finden sich auch wieder, denn die Adrenochrom-Anspielung ist ein Zitat aus dem Roman Fear and Loathing in Las Vegas von Hunter S. Thompson. Sie können Verschwörungserzählungen miteinander verknüpfen, Brücken bauen. Bei den Chemtrail-Erzählungen glaubt ein Teil der Anhängerschaft beispielsweise an das sogenannte „Project Blue Beam”. Dies soll ein gigantisches Netzwerk an angeblichen Hochfrequenz-Lasersatelliten sein, welches religiöse Erscheinungen an den Himmel projizieren soll. Richtig neu erfunden werden Verschwörungserzählungen aber eigentlich keine. Alles war schon mal in irgendeiner Form da oder wurde entlehnt oder verknüpft.
Weiterführende Links
- Spiegel-Artikel zur Verschwörungstheorie-Formel „Einer hätte die Wahrheit längst ausgeplaudert“ vom 28. Januar 2016
- Infotext vom Deutschen Wetterdienst „Allgemeines zur Wetterfühligkeit“ vom 24. Februat 2015
- Geo-Artikel „Wetterfühligkeit: Temperatursturz, Tiefdruck, Gewitter – macht uns das Wetter krank?“ vom 21. Juli 2022
Bildquellen: Der goldene Aluhut | Bildbearbeitung: MvonS
Über die Autorin
Victoria Graul ist freie Journalistin und engagiert sich auf vielen Ebenen mit eigenen Workshops und Vorträgen zu den Themen Faktencheck, Desinformation und Medienkompetenz. Sie betreibt den Podcast „Digga Fake – Fake News & Fact-Checking“. Davor arbeitete sie als Online-Redakteurin, unter anderem für die Freie Presse und das RND RedaktionsNetzwerk Deutschland.
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Cherry-Picking, zu deutsch Rosinenpickerei, ist ein rhetorischer Trick der Manipulation. Dabei werden Informationen bewusst so ausgewählt und aus dem Kontext gerissen, dass sie die eigene Position stützen. Damit wirken Verschwörungstheorien besonders überzeugend.