„Werde ich dann gecanceled?“
Breite Meinungsvielfalt in Online-Diskussionen heißt auch Hate Speech, Shitstorms und Co zu erleben. Viele Menschen schrecken die schnellen und oft auch heftigen Reaktionen aber ab, sich selbst in Debatten einzubringen. Wie können wir auf Social-Media-Plattformen gute Debatten führen, wenn dort Beleidigungen dazugehören?
Nie war es so leicht wie heute, die eigene Meinung kundzutun, Debatten anzuzetteln, Wahrheiten und Fake News mit dem Rest der Welt zu teilen. Soziale Medien sind ein Ort, an dem wir das Geschehen um uns herum in Echtzeit aktiv mitgestalten können. Das kann sogar zu neuen Protestformen führen. Das Phänomen Cancel Culture (siehe Info-Kasten) etwa hat im Zuge der Corona-Pandemie und der LGBTQ+-Bewegung dazu geführt, dass Prominente wie Nena, Fynn Kliemann oder J.K. Rowling im Internet boykottiert wurden.
Tatsächlich ist aber im Netz nur ein kleiner Anteil von Nutzer*innen aktiv mit dem Verfassen von Kommentaren und Beiträgen beschäftigt. Umfragen von Medienhäusern und Meinungsforschungsinstituten bestätigen das immer wieder. So gaben beispielsweise laut der ARD/ZDF-Onlinestudie von 2020 nur zehn Prozent der regelmäßigen Facebook-Nutzer*innen an, dass sie auf der Plattform Kommentare schreiben. Im Umkehrschluss bedeutet das: Eine Minderheit in unserer Gesellschaft gibt den Ton in Online-Diskussionen an.
Das wird dann zum Problem, wenn wie im Fall von Cancel Culture in Kommentarspalten verbal die Fetzen fliegen und Moderator*innen wenig bis gar nicht einschreiten. Natürlich kann Wut über das Gelesene auch dazu motivieren, die eigenen Ansichten erst recht zu teilen. Vielleicht läuft es aber auch anders, und man ist weniger gewillt, sich an der aggressiven Diskussion konstruktiv zu beteiligen, was wiederum den Kommentierenden gelegen kommt, die entweder selber bereitwillig verroht kommunizieren oder das zumindest aushalten können. Eine Diskussion, die lösungsorientiert verläuft und unterschiedliche Perspektiven abbildet, ist dann eher unwahrscheinlich. Solche Beobachtungen sind schon lange Bestandteil wissenschaftlicher Forschungen. Wie können wir also auf Social-Media-Plattformen gute Debatten führen, wenn dort Beleidigungen zum Repertoire gehören? Und was genau macht eine konstruktive Debatte aus?
Kurz erklärt: Einige Formen unsozialen Online-Verhaltens
- Cancel Culture lässt sich als Kampfbegriff für das Bestreben zur öffentlichen Ächtung einer Person oder Organisation verstehen. Im Extremfall rufen Kommentierende zum Boykott auf. Inzivile Verhaltensweisen sind hier Standard – etwa beleidigende und diskriminierende Äußerungen – mit dem Ziel, vermeintliches Fehlverhalten der Zielperson aufzuzeigen.
- Cybermobbing / Cyberbullying umschreibt ein systematisches, meist längerfristiges Vorgehen im Internet, um Personen zu schaden und sie gegebenenfalls aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Charakteristisch sind Beleidigungen, Bloßstellungen, Verleumdungen und Nötigungen, die teils psychische Belastungen bei den Opfern hervorrufen können.
- Flaming ist ein anderer Ausdruck für das Posten von Beleidigungen und Schimpfwörtern. In zugespitzter Form kann diese Art des Kommentierens in sogenannten Flame-Wars münden. Diese entstehen zwar zumeist aus einer sachlichen Diskussion, driften dann aber in Nebenkriegsschauplätze ab, wo die Beteiligten vom einen zum anderen Thema springen.
- Der Shitstorm ist ein verdichtetes Auftreten öffentlicher Kritik gegen Personen und Organisationen. Zentrales Merkmal sind jede Form von Inzivilität, vor allem Beleidigungen, Hassrede, Abwertungen und Bedrohungen. Ein Shitstorm zielt in der Regel darauf ab, Missstände anzuprangern, Wut zu entladen und Schaden anzurichten.
- Trolling ist daran zu erkennen, dass Kommentierende in Online-Diskussionen absichtlich provoziert werden, oft auch unterschwellig und ohne echte Beleidigungen. Konflikte werden angezettelt, deren Zweck es durchaus sein kann, weitere Meinungsäußerungen einer Person zu verhindern. Trolling ist teilweise auch eine organisierte Aktion mit dem Ziel, politische Propaganda für eine Sache oder Person zu betreiben.
- Whataboutism / Derailing beschreibt eine Manipulationstechnik, mit dem der Gesprächspartner beziehungsweise die Gesprächspartnerin in seinen / ihren Ansichten herabgewürdigt wird. Dabei wird nicht das Problem selbst erörtert, um das sich die Diskussion dreht, sondern der Fokus wird auf ein anderes Thema gelegt, etwa mit Formulierungen wie „Selber noch schlimmer!“ oder „Und was ist mit…?“. Eine sachliche Diskussion wird so eher lahmgelegt.
Beleidigungen und Hassrede als Form der Inzivilität
Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir erst einmal klären, was es mit verrohter Debattenkultur auf sich hat. In der Wissenschaft wird eher vom Begriff der Inzivilität gesprochen. Darunter fallen in der Regel alle möglichen Verhaltensweisen (etwa schriftliche Kommentare, das Verfassen von Posts, das Teilen von Memes und Gifs), die von den Normen abweichen, die in unserer Gesellschaft gelten. Das kann unterschiedliche Formen annehmen und reicht von Beleidigungen, Abwertungen, vulgären Ausdrücken und Sarkasmus bis hin zu Hassrede, Verleumdungen und Lügen.
Was im Detail als inzivil gilt, ist gar nicht so einfach zu definieren, wie der Sozialpsychologe Jan Philipp Kluck von der Universität Duisburg-Essen sagt: „Je nach Kontext kann ein und dieselbe Aussage höchst inzivil sein oder auch im hohen Maße zivil, weil sie eben je nachdem anders gewertet wird.“ So gesehen könne es zu Missverständnissen kommen. Beispielsweise lässt sich der Kommentar „Du Arschloch ;)“ in einem öffentlichen Chat als Beleidigung auffassen, wenn die beteiligten Personen nicht wissen, dass es sich hierbei ursprünglich um einen Insider-Witz zwischen zwei Freunden handelt. „Dann kann es ganz schnell passieren, dass Nutzer*innen gar keine Lust mehr haben sich in die Debatte einzuschalten, weil sie von objektiven Maßstäben ausgehend eine Beleidigung und keinen Witz lesen“, so Kluck.
Das Risiko, verrohten Kommentaren auf Social-Media-Plattformen zu begegnen, scheint in den vergangenen Jahren zugenommen zu haben. So gibt es Medienberichten zufolge beim Bundesamt für Justiz immer mehr Beschwerden nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz über rechtswidrige Inhalte in sozialen Netzwerken. Die Ursachen für die Wahrnehmung von zunehmender Inzivilität sind auch wesentlich damit verbunden, dass die algorithmischen Entscheidungssysteme der Plattformen derart funktionieren, dass Nutzer*innen und Inhalte miteinander abgestimmt werden. Entsprechend können im Newsfeed des Einzelnen dann solche Beiträge prominenter auftauchen, die besonders viele Likes, Shares und Kommentare beinhalten. Diese Aufmerksamkeitslogiken lösen bestimmte Verhaltensweisen in uns aus.
Warum fühlen sich Menschen entmutigt, online zu diskutieren? Einige Überlegungen:
- Angst vor Folgen unsozialen Online-Verhaltens wie Shitstorm oder Trolling
- Vorverurteilung der Kommentierenden als Glaubenskrieger*innen
- Sorge, dass zeitintensive Folgediskussionen entstehen, gegebenenfalls mit Diskussionspartner*innen, die sich als Fake-Accounts oder Trolle entpuppen
- „Zwischentöne“, die für gewöhnlich Missverständnisse in analogen Unterhaltungen sofort auflösen, sind kaum bis gar nicht zu erkennen – etwa wie viele Menschen den Kommentar tatsächlich gelesen und ihm zugestimmt haben
- Like-Buttons wirken als emotionaler Stressfaktor, insbesondere wenn ein Beitrag nicht genügend Likes bekommt
- Effekt der Schweigespirale: Medien erwecken durch eine häufige Berichterstattung über ein Thema den Eindruck, dass eine bestimmte Meinung in der Gesellschaft überwiegt, die der eigenen Ansicht widerspricht
Kommentare bewirken negatives und positives Verhalten
Kommentare haben auf diejenigen, die sie lesen, zunächst immer eine Wirkung. Es ist aber zu kurz gedacht, wenn man glaubt, dass Beleidigungen, Hassrede und Co prinzipiell negative Verhaltensweisen beim Gegenüber hervorrufen. Das Motto Gleiches mit Gleichem zu vergelten muss nicht die Regel sein. Im Gegenteil: Es können auch positive Effekte entstehen. Sozialpsychologe Kluck etwa schlussfolgert über seine eigenen Forschungen zum Thema: „Selbst wenn Menschen mit inzivilem Kommunikationsverhalten konfrontiert sind, haben wir festgestellt, dass sie eher dazu geneigt sind, gemäßigt zu kommentieren als sich auf eine ähnliche sprachliche Ebene zu begeben.“ Für den Einzelnen bedeutet das, Kommentarspalten nicht per se zu verfluchen, sondern sich auch die Chancen für eine gute Unterhaltung bewusst zu machen.
Auch wenn Phänomene wie Cancel Culture viele Menschen abschrecken, das zu sagen, was sie denken, und sie eher dazu verleiten mögen, die Rolle des stillen Mitlesenden einzunehmen, ist die Beteiligung in Online-Diskussionen doch ein wichtiger Faktor für die Demokratie. „Jede Person ist Teil unserer demokratischen Verfasstheit und sollte sich nach ihren Möglichkeiten einbringen, egal ob in Kommentarspalten oder im Verein vor Ort. Jedes Engagement zählt, weil es zur Gesamtheit des Miteinanders beiträgt,“ sagt Joachim Kirschstein von der Plattform Diskutier Mit Mir. Die Organisation ist 2017 mit einer Chat-App gestartet, bietet inzwischen aber eine ganze Reihe von Programmen und Diskursformaten zur Demokratieförderung an. Laut Kirschstein leben Debatten von einem Aushandlungsprozess, in dem unterschiedliche Perspektiven, Mehrheits- und Minderheitsmeinungen im Austausch sind. Das Ergebnis sei im Idealfall ein „Wir-Gefühl“, in dem sich ein großer Teil der Gesellschaft wiederfindet. „Je mehr Ideen in Debatten eingebracht werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die beste mit dabei ist.“
Mit diesen Tipps diskutierst du konstruktiv
In den Austausch zu gehen, bedeutet jedoch nicht nur, dass man seine eigenen Erfahrungen und Informationen einbringt. Es sollte auch aus einer Haltung heraus passieren, die sich Werten wie Respekt, Empathie und Frustrationstoleranz verschreibt. Welche Kniffe helfen also, um eine konstruktive Online-Diskussion zu führen? Wir haben ein paar hilfreiche Perspektiven zusammengefasst, mit denen ein faires, sachliches und wertschätzendes Gespräch auf Augenhöhe gelingen kann:
- Respekt vor der anderen Meinung: Akzeptiere, dass es unterschiedliche Ansichten und Bewertungen zu einem Thema gibt. Deine Meinung ist eine von vielen und hat keinen Alleingeltungsanspruch. Werte dein Gegenüber nicht ab, weil er oder sie nicht deiner Meinung ist.
- Gehe in die Selbstreflexion und sei transparent: Lass andere verstehen, warum du eine bestimmte Position hast und zeige das anhand konkreter Begründungszusammenhänge. Umgekehrt macht es auch Sinn, deinem Gegenüber offene Fragen zu stellen wie „Warum bist du der Meinung, dass …?“ oder „Warum glaubst du, dass …?“. Damit signalisierst du, dass du durchaus die Gegenposition verstehen willst.
- Übe sachliche Kritik: Konzentriere dich im besten Fall auf einen Sachverhalt. Vermeide Pauschalisierungen und vage Formulierungen. Sei bereit, deine Überzeugungen zu überdenken oder auch zu revidieren, wenn die Gründe plausibel sind. Falsche Informationen solltest du umgehend korrigieren. Bedenke, dass es immer stille Mitlesende gibt, die vielleicht selbst damit hadern, in die Diskussion einzusteigen.
- Emotional zu reagieren, ist manchmal auch okay: Wenn dich etwas sehr berührt, stehe entschieden für deine eigenen Ideen ein, aber bleib freundlich und werte dein Gegenüber nicht ab. Sprich über die Gefühle, die da gerade hochkochen, etwa mit einer Aussage wie „Ich merke gerade, dass ich bei diesem Thema wütend werde …“.
- Mach dir einen Notfallplan: In einigen Fällen liegen die Nerven blank. Überleg dir im Vorfeld, wie du deine innere Balance wiederfinden kannst, um einen überlegten Kommentar zu schreiben. Vielleicht hilft es, kurz in dein Lieblingsbuch zu schauen, auf den Balkon gehen oder in ein Kissen zu schreien?
- Spring nicht über jedes Stöckchen: Manchmal ist es smarter, die eigene Meinung unter Verschluss zu halten, wenn es schon genügend Kommentare zum Thema gibt. Das kann helfen, die Empörungsspirale nicht weiter zu drehen.
Fazit
Es ist utopisch zu glauben, dass alle Beteiligten in Online-Diskussionen miteinander wertschätzend diskutieren. Jeder Mensch bringt unterschiedliche Erfahrungen und Persönlichkeitsmuster mit, so dass es zwangsläufig zu Reibungen kommt. Es liegt in der Natur der Sache, dass es dort auch mal ein wenig verbal knallen kann. Und einige Themen wie Flüchtlingspolitik und feministische Bewegungen polarisieren ohnehin. Es ist aber auch unwahrscheinlich, dass Kommentarspalten ein dystopischer Ort werden, wo sich alle nur noch gegenseitig beleidigen, Shitstorms und Flame-Wars starten und es keinen konstruktiven Diskurs mehr gibt. Denn viele Menschen sind sich der Verantwortung bewusst, die sie bereits bei Streitereien mit Freunden und Familie im Analogen haben. Werte wie Respekt, Empathie und Frustrationstoleranz sind da überaus förderlich, Gespräche auf Augenhöhe zu führen.
Weiterführende Links:
- Spiegel-Podcast Stimmenfang zur Frage, warum es so schwer ist, im Netz fair zu streiten: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/social-media-und-debattenkultur-warum-es-so-schwer-ist-im-netz-vernuenftig-zu-streiten-a-2a09044a-47fe-4b1e-b205-b41dc53308b4
- Zusammenfassung der Online-Debatte “Die Macht der Wörter – Wie Debatten unsere Welt verändern” vom Projekt Die Debatte: https://www.die-debatte.org/debattenkultur-das-war-die-debatte/
- Zehn Regeln für eine gute Debatte vom Forum für Streitkultur: https://forum-streitkultur.de/zehn-regeln-gute-debatte/
- Fünf Ratschläge für ein konstruktives Kommentarverhalten von der Amadeu Antonio Stiftung: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/fuenf-ratschlaege-fuer-ein-konstruktives-kommentarverhalten/
- Spiegel-Artikel über die Geschichte des Shitstorms: https://www.spiegel.de/geschichte/vom-flamewar-zum-shitstorm-geschichte-des-internet-gepoebels-a-953266.html
Bildquellen: Yannic Meier, Joachim Kirschstein | Bearbeitung: MvonS
Über die Autorin
Victoria Graul ist freie Journalistin und engagiert sich auf vielen Ebenen mit eigenen Workshops und Vorträgen zu den Themen Faktencheck, Desinformation und Medienkompetenz. Sie betreibt den Podcast „Digga Fake – Fake News & Fact-Checking“. Davor arbeitete sie als Online-Redakteurin, unter anderem für die Freie Presse und das RND RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Schon gewusst?
Im Netz verfasst nur ein kleiner Anteil von Nutzer*innen aktiv Kommentare und Beiträgen. Laut Umfragen von Medienhäusern und Meinungsforschungsinstituten sind das in der Regel maximal 20 Prozent. Der überwiegende Teil sind stille Mitlesende.
„Werde ich dann gecanceled?“
Breite Meinungsvielfalt in Online-Diskussionen heißt auch Hate Speech, Shitstorms und Co zu erleben. Viele Menschen schrecken die schnellen und oft auch heftigen Reaktionen aber ab, sich selbst in Debatten einzubringen. Wie können wir auf Social-Media-Plattformen gute Debatten führen, wenn dort Beleidigungen dazugehören?
Nie war es so leicht wie heute, die eigene Meinung kundzutun, Debatten anzuzetteln, Wahrheiten und Fake News mit dem Rest der Welt zu teilen. Soziale Medien sind ein Ort, an dem wir das Geschehen um uns herum in Echtzeit aktiv mitgestalten können. Das kann sogar zu neuen Protestformen führen. Das Phänomen Cancel Culture (siehe Info-Kasten) etwa hat im Zuge der Corona-Pandemie und der LGBTQ+-Bewegung dazu geführt, dass Prominente wie Nena, Fynn Kliemann oder J.K. Rowling im Internet boykottiert wurden.
Tatsächlich ist aber im Netz nur ein kleiner Anteil von Nutzer*innen aktiv mit dem Verfassen von Kommentaren und Beiträgen beschäftigt. Umfragen von Medienhäusern und Meinungsforschungsinstituten bestätigen das immer wieder. So gaben beispielsweise laut der ARD/ZDF-Onlinestudie von 2020 nur zehn Prozent der regelmäßigen Facebook-Nutzer*innen an, dass sie auf der Plattform Kommentare schreiben. Im Umkehrschluss bedeutet das: Eine Minderheit in unserer Gesellschaft gibt den Ton in Online-Diskussionen an.
Das wird dann zum Problem, wenn wie im Fall von Cancel Culture in Kommentarspalten verbal die Fetzen fliegen und Moderator*innen wenig bis gar nicht einschreiten. Natürlich kann Wut über das Gelesene auch dazu motivieren, die eigenen Ansichten erst recht zu teilen. Vielleicht läuft es aber auch anders, und man ist weniger gewillt, sich an der aggressiven Diskussion konstruktiv zu beteiligen, was wiederum den Kommentierenden gelegen kommt, die entweder selber bereitwillig verroht kommunizieren oder das zumindest aushalten können. Eine Diskussion, die lösungsorientiert verläuft und unterschiedliche Perspektiven abbildet, ist dann eher unwahrscheinlich. Solche Beobachtungen sind schon lange Bestandteil wissenschaftlicher Forschungen. Wie können wir also auf Social-Media-Plattformen gute Debatten führen, wenn dort Beleidigungen zum Repertoire gehören? Und was genau macht eine konstruktive Debatte aus?
Kurz erklärt: Einige Formen unsozialen Online-Verhaltens
- Cancel Culture lässt sich als Kampfbegriff für das Bestreben zur öffentlichen Ächtung einer Person oder Organisation verstehen. Im Extremfall rufen Kommentierende zum Boykott auf. Inzivile Verhaltensweisen sind hier Standard – etwa beleidigende und diskriminierende Äußerungen – mit dem Ziel, vermeintliches Fehlverhalten der Zielperson aufzuzeigen.
- Cybermobbing / Cyberbullying umschreibt ein systematisches, meist längerfristiges Vorgehen im Internet, um Personen zu schaden und sie gegebenenfalls aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Charakteristisch sind Beleidigungen, Bloßstellungen, Verleumdungen und Nötigungen, die teils psychische Belastungen bei den Opfern hervorrufen können.
- Flaming ist ein anderer Ausdruck für das Posten von Beleidigungen und Schimpfwörtern. In zugespitzter Form kann diese Art des Kommentierens in sogenannten Flame-Wars münden. Diese entstehen zwar zumeist aus einer sachlichen Diskussion, driften dann aber in Nebenkriegsschauplätze ab, wo die Beteiligten vom einen zum anderen Thema springen.
- Der Shitstorm ist ein verdichtetes Auftreten öffentlicher Kritik gegen Personen und Organisationen. Zentrales Merkmal sind jede Form von Inzivilität, vor allem Beleidigungen, Hassrede, Abwertungen und Bedrohungen. Ein Shitstorm zielt in der Regel darauf ab, Missstände anzuprangern, Wut zu entladen und Schaden anzurichten.
- Trolling ist daran zu erkennen, dass Kommentierende in Online-Diskussionen absichtlich provoziert werden, oft auch unterschwellig und ohne echte Beleidigungen. Konflikte werden angezettelt, deren Zweck es durchaus sein kann, weitere Meinungsäußerungen einer Person zu verhindern. Trolling ist teilweise auch eine organisierte Aktion mit dem Ziel, politische Propaganda für eine Sache oder Person zu betreiben.
- Whataboutism / Derailing beschreibt eine Manipulationstechnik, mit dem der Gesprächspartner beziehungsweise die Gesprächspartnerin in seinen / ihren Ansichten herabgewürdigt wird. Dabei wird nicht das Problem selbst erörtert, um das sich die Diskussion dreht, sondern der Fokus wird auf ein anderes Thema gelegt, etwa mit Formulierungen wie „Selber noch schlimmer!“ oder „Und was ist mit…?“. Eine sachliche Diskussion wird so eher lahmgelegt.
Beleidigungen und Hassrede als Form der Inzivilität
Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir erst einmal klären, was es mit verrohter Debattenkultur auf sich hat. In der Wissenschaft wird eher vom Begriff der Inzivilität gesprochen. Darunter fallen in der Regel alle möglichen Verhaltensweisen (etwa schriftliche Kommentare, das Verfassen von Posts, das Teilen von Memes und Gifs), die von den Normen abweichen, die in unserer Gesellschaft gelten. Das kann unterschiedliche Formen annehmen und reicht von Beleidigungen, Abwertungen, vulgären Ausdrücken und Sarkasmus bis hin zu Hassrede, Verleumdungen und Lügen.
Was im Detail als inzivil gilt, ist gar nicht so einfach zu definieren, wie der Sozialpsychologe Jan Philipp Kluck von der Universität Duisburg-Essen sagt: „Je nach Kontext kann ein und dieselbe Aussage höchst inzivil sein oder auch im hohen Maße zivil, weil sie eben je nachdem anders gewertet wird.“ So gesehen könne es zu Missverständnissen kommen. Beispielsweise lässt sich der Kommentar „Du Arschloch ;)“ in einem öffentlichen Chat als Beleidigung auffassen, wenn die beteiligten Personen nicht wissen, dass es sich hierbei ursprünglich um einen Insider-Witz zwischen zwei Freunden handelt. „Dann kann es ganz schnell passieren, dass Nutzer*innen gar keine Lust mehr haben sich in die Debatte einzuschalten, weil sie von objektiven Maßstäben ausgehend eine Beleidigung und keinen Witz lesen“, so Kluck.
Das Risiko, verrohten Kommentaren auf Social-Media-Plattformen zu begegnen, scheint in den vergangenen Jahren zugenommen zu haben. So gibt es Medienberichten zufolge beim Bundesamt für Justiz immer mehr Beschwerden nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz über rechtswidrige Inhalte in sozialen Netzwerken. Die Ursachen für die Wahrnehmung von zunehmender Inzivilität sind auch wesentlich damit verbunden, dass die algorithmischen Entscheidungssysteme der Plattformen derart funktionieren, dass Nutzer*innen und Inhalte miteinander abgestimmt werden. Entsprechend können im Newsfeed des Einzelnen dann solche Beiträge prominenter auftauchen, die besonders viele Likes, Shares und Kommentare beinhalten. Diese Aufmerksamkeitslogiken lösen bestimmte Verhaltensweisen in uns aus.
Warum fühlen sich Menschen entmutigt, online zu diskutieren? Einige Überlegungen:
- Angst vor Folgen unsozialen Online-Verhaltens wie Shitstorm oder Trolling
- Vorverurteilung der Kommentierenden als Glaubenskrieger*innen
- Sorge, dass zeitintensive Folgediskussionen entstehen, gegebenenfalls mit Diskussionspartner*innen, die sich als Fake-Accounts oder Trolle entpuppen
- „Zwischentöne“, die für gewöhnlich Missverständnisse in analogen Unterhaltungen sofort auflösen, sind kaum bis gar nicht zu erkennen – etwa wie viele Menschen den Kommentar tatsächlich gelesen und ihm zugestimmt haben
- Like-Buttons wirken als emotionaler Stressfaktor, insbesondere wenn ein Beitrag nicht genügend Likes bekommt
- Effekt der Schweigespirale: Medien erwecken durch eine häufige Berichterstattung über ein Thema den Eindruck, dass eine bestimmte Meinung in der Gesellschaft überwiegt, die der eigenen Ansicht widerspricht
Kommentare bewirken negatives und positives Verhalten
Kommentare haben auf diejenigen, die sie lesen, zunächst immer eine Wirkung. Es ist aber zu kurz gedacht, wenn man glaubt, dass Beleidigungen, Hassrede und Co prinzipiell negative Verhaltensweisen beim Gegenüber hervorrufen. Das Motto Gleiches mit Gleichem zu vergelten muss nicht die Regel sein. Im Gegenteil: Es können auch positive Effekte entstehen. Sozialpsychologe Kluck etwa schlussfolgert über seine eigenen Forschungen zum Thema: „Selbst wenn Menschen mit inzivilem Kommunikationsverhalten konfrontiert sind, haben wir festgestellt, dass sie eher dazu geneigt sind, gemäßigt zu kommentieren als sich auf eine ähnliche sprachliche Ebene zu begeben.“ Für den Einzelnen bedeutet das, Kommentarspalten nicht per se zu verfluchen, sondern sich auch die Chancen für eine gute Unterhaltung bewusst zu machen.
Auch wenn Phänomene wie Cancel Culture viele Menschen abschrecken, das zu sagen, was sie denken, und sie eher dazu verleiten mögen, die Rolle des stillen Mitlesenden einzunehmen, ist die Beteiligung in Online-Diskussionen doch ein wichtiger Faktor für die Demokratie. „Jede Person ist Teil unserer demokratischen Verfasstheit und sollte sich nach ihren Möglichkeiten einbringen, egal ob in Kommentarspalten oder im Verein vor Ort. Jedes Engagement zählt, weil es zur Gesamtheit des Miteinanders beiträgt,“ sagt Joachim Kirschstein von der Plattform Diskutier Mit Mir. Die Organisation ist 2017 mit einer Chat-App gestartet, bietet inzwischen aber eine ganze Reihe von Programmen und Diskursformaten zur Demokratieförderung an. Laut Kirschstein leben Debatten von einem Aushandlungsprozess, in dem unterschiedliche Perspektiven, Mehrheits- und Minderheitsmeinungen im Austausch sind. Das Ergebnis sei im Idealfall ein „Wir-Gefühl“, in dem sich ein großer Teil der Gesellschaft wiederfindet. „Je mehr Ideen in Debatten eingebracht werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die beste mit dabei ist.“
Mit diesen Tipps diskutierst du konstruktiv
In den Austausch zu gehen, bedeutet jedoch nicht nur, dass man seine eigenen Erfahrungen und Informationen einbringt. Es sollte auch aus einer Haltung heraus passieren, die sich Werten wie Respekt, Empathie und Frustrationstoleranz verschreibt. Welche Kniffe helfen also, um eine konstruktive Online-Diskussion zu führen? Wir haben ein paar hilfreiche Perspektiven zusammengefasst, mit denen ein faires, sachliches und wertschätzendes Gespräch auf Augenhöhe gelingen kann:
- Respekt vor der anderen Meinung: Akzeptiere, dass es unterschiedliche Ansichten und Bewertungen zu einem Thema gibt. Deine Meinung ist eine von vielen und hat keinen Alleingeltungsanspruch. Werte dein Gegenüber nicht ab, weil er oder sie nicht deiner Meinung ist.
- Gehe in die Selbstreflexion und sei transparent: Lass andere verstehen, warum du eine bestimmte Position hast und zeige das anhand konkreter Begründungszusammenhänge. Umgekehrt macht es auch Sinn, deinem Gegenüber offene Fragen zu stellen wie „Warum bist du der Meinung, dass …?“ oder „Warum glaubst du, dass …?“. Damit signalisierst du, dass du durchaus die Gegenposition verstehen willst.
- Übe sachliche Kritik: Konzentriere dich im besten Fall auf einen Sachverhalt. Vermeide Pauschalisierungen und vage Formulierungen. Sei bereit, deine Überzeugungen zu überdenken oder auch zu revidieren, wenn die Gründe plausibel sind. Falsche Informationen solltest du umgehend korrigieren. Bedenke, dass es immer stille Mitlesende gibt, die vielleicht selbst damit hadern, in die Diskussion einzusteigen.
- Emotional zu reagieren, ist manchmal auch okay: Wenn dich etwas sehr berührt, stehe entschieden für deine eigenen Ideen ein, aber bleib freundlich und werte dein Gegenüber nicht ab. Sprich über die Gefühle, die da gerade hochkochen, etwa mit einer Aussage wie „Ich merke gerade, dass ich bei diesem Thema wütend werde …“.
- Mach dir einen Notfallplan: In einigen Fällen liegen die Nerven blank. Überleg dir im Vorfeld, wie du deine innere Balance wiederfinden kannst, um einen überlegten Kommentar zu schreiben. Vielleicht hilft es, kurz in dein Lieblingsbuch zu schauen, auf den Balkon gehen oder in ein Kissen zu schreien?
- Spring nicht über jedes Stöckchen: Manchmal ist es smarter, die eigene Meinung unter Verschluss zu halten, wenn es schon genügend Kommentare zum Thema gibt. Das kann helfen, die Empörungsspirale nicht weiter zu drehen.
Fazit
Es ist utopisch zu glauben, dass alle Beteiligten in Online-Diskussionen miteinander wertschätzend diskutieren. Jeder Mensch bringt unterschiedliche Erfahrungen und Persönlichkeitsmuster mit, so dass es zwangsläufig zu Reibungen kommt. Es liegt in der Natur der Sache, dass es dort auch mal ein wenig verbal knallen kann. Und einige Themen wie Flüchtlingspolitik und feministische Bewegungen polarisieren ohnehin. Es ist aber auch unwahrscheinlich, dass Kommentarspalten ein dystopischer Ort werden, wo sich alle nur noch gegenseitig beleidigen, Shitstorms und Flame-Wars starten und es keinen konstruktiven Diskurs mehr gibt. Denn viele Menschen sind sich der Verantwortung bewusst, die sie bereits bei Streitereien mit Freunden und Familie im Analogen haben. Werte wie Respekt, Empathie und Frustrationstoleranz sind da überaus förderlich, Gespräche auf Augenhöhe zu führen.
Weiterführende Links:
- Spiegel-Podcast Stimmenfang zur Frage, warum es so schwer ist, im Netz fair zu streiten: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/social-media-und-debattenkultur-warum-es-so-schwer-ist-im-netz-vernuenftig-zu-streiten-a-2a09044a-47fe-4b1e-b205-b41dc53308b4
- Zusammenfassung der Online-Debatte “Die Macht der Wörter – Wie Debatten unsere Welt verändern” vom Projekt Die Debatte: https://www.die-debatte.org/debattenkultur-das-war-die-debatte/
- Zehn Regeln für eine gute Debatte vom Forum für Streitkultur: https://forum-streitkultur.de/zehn-regeln-gute-debatte/
- Fünf Ratschläge für ein konstruktives Kommentarverhalten von der Amadeu Antonio Stiftung: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/fuenf-ratschlaege-fuer-ein-konstruktives-kommentarverhalten/
- Spiegel-Artikel über die Geschichte des Shitstorms: https://www.spiegel.de/geschichte/vom-flamewar-zum-shitstorm-geschichte-des-internet-gepoebels-a-953266.html
Bildquellen: Yannic Meier, Joachim Kirschstein | Bearbeitung: MvonS
Über die Autorin
Victoria Graul ist freie Journalistin und engagiert sich auf vielen Ebenen mit eigenen Workshops und Vorträgen zu den Themen Faktencheck, Desinformation und Medienkompetenz. Sie betreibt den Podcast „Digga Fake – Fake News & Fact-Checking“. Davor arbeitete sie als Online-Redakteurin, unter anderem für die Freie Presse und das RND RedaktionsNetzwerk Deutschland.
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